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  • AutorenbildTanja

Exkurs Film: ANIMA - Die Kleider meines Vaters von Uli Decker

Falls du ganz zufällig zu den wenigen Personen gehörst, die ANIMA beim Film Festival Max Ophüls Preis gesehen haben, dann hast du dich vermutlich gerade über das von mir ausgewählte Titelbild gewundert. Denn das ist nicht das Bild, mit dem der Film beworben wurde. Ich habe hier ganz bewusst das Familienfoto ausgewählt, weil das eigentliche Titelbild und der vom Filmfestival im Voraus veröffentlichte Mini-Ausschnitt mir fast ein falsches Bild von diesem Dokumentarfilm vermittelt hätten. Fast hätte ich gedacht es ginge um ein kirchliches Thema, denn der Teaser handelt davon, dass Uli Decker früher als Kind gerne Pabst geworden wäre und bei ihrer Kommunion auf keinen Fall eine "kleine Braut Jesu" sein wollte - mit anderen Worten: sie wollte kein Kleidchen tragen, sie wollte eine Machtposition. Doch dieser christliche Rahmen taucht im Film nur kurz auf, denn eigentlich geht es viel mehr um das andere Thema, das hier mitschwingt: Kleidung. Und zwar gegenderte Kleidung und der kulturelle Kodex, der sich dahinter verbirgt.



aus: ANIMA - Die Kleider meines Vaters © Flare Film, Falk Schuster

Nun hab ich euch das Bild aber doch noch gezeigt - mit diesem kleinen Disclaimer davor - weil es ganz wunderbar zeigt, was diesen Dokumentarfilm stilistisch so besonders macht. "In einem filmischen Feuerwerk aus Bild, Ton und Musik verbindet eine virtuose Montage zeitgenössische Archivaufnahmen, Fotos, private Aufzeichnungen, Interviews und eine bemerkenswerte Animation, die mit Phantasie und Humor immer noch eine Ebene hinzufügt", so die Jury, die ANIMA den Max Ophüls Preis für den besten Dokumentarfilm verlieh.


Ich bin sicherlich keine Film-Expertin und kann über die Technik eines Filmes nicht viel sagen. Doch ich bin mir sicher, dass neben dem interessanten Thema auch die Machart von ANIMA die Zuschauer*innen begeistert hat - und zwar nicht nur die Fach-Jury, sondern auch die privaten Besucher*innen, die ANIMA den Publikumspreis im Wettbewerb Dokumentarfilm sicherten.


Worum geht's?


Der Grund, warum ich mir den Film angesehen und ihn nun auch für ein Posting im feministischen Kontext ausgewählt habe, ist natürlich nicht seine clevere und unterhaltsame Gestaltung, sondern der Inhalt. Und die will ich euch nicht länger vorenthalten:


Uli Decker erhält nach dem Tod ihres Vaters eine Kiste mit Erinnerungsstücken und erfährt von ihrer Mutter ein Familiengeheimnis, von dem sie und ihre Schwester all die Jahre nichts wussten. Eigentlich war es also eher ein Geheimnis ihrer Eltern untereinander, das geheimzuhalten der Wunsch ihres Vaters gewesen war. Als er nach einem Unfall (verursacht durch einen folgenschweren Jugendstreich) verstirbt, weiht die Mutter ihre beiden Töchter letztlich doch ein: Ihr Vater war ein Crossdresser. Schon als Junge hatte er, sobald er alleine Zuhause war, die Kleider seiner Mutter anprobiert, sich in seiner Jugend getraut erste eigene Kleidungsstücke zu kaufen. Im Trubel der Stadt hatte er es gewagt in Frauenkleidung unerkannt durch die Straßen zu flanieren.


Als Frau leben wollte er jedoch nicht. Erzählt wird also nicht die Geschichte einer trans* Person, die durch das strenge Umfeld früherer Jahrzehnte im ländlichen Oberbayern keine Möglichkeit zum Ausleben hatte. Früher hätte man vermutlich von Transvestitismus gesprochen. Der Begriff wird heute meist durch "Crossdressing" ersetzt, da ersterer eine Pathologisierung nach sich zog. Das bedeutet, dass Crossdesser als (psychisch) krank eingestuft wurden. Im ICD, dem weltweit anerkannten System zur Diagnostizierung von Krankheiten, wird Transvestitismus im Kapitel der "Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen" als sexueller Fetisch (falls dabei Lust empfunden wird) oder Störung der Geschlechtsidentität geführt. Dies ist - meiner Recherchen zufolge - auch im ICD 10 (der seit 1.1.2021 gilt) noch der Fall und äußerst problematisch. Eine "Krankheit", die allein an den Regeln unserer Gesellschaft gemessen wird. Wer welche Kleidung tragen darf - eigentlich ein unwichtiger Aspekt mit Blick auf Gesetze oder das tägliche Miteinander - ist scheinbar fest vorgeschrieben. Ein Fakt, der mir in diesem enormen Ausmaß erst durch diesen Film deutlich wurde.


Doch zurück zur Handlung: Erst nach Jahrzehnten teilte der Familienvater sein Geheimnis mit seiner Frau, nachdem diese im Badezimmer ein Spitzenhemdchen gefunden hatte, das weder ihr noch einer der Töchter gehörte. Seine schlimmste Befürchtung wurde nicht erfüllt. Seine Frau konnte die Neigung ihres Mannes zwar nicht vollumfänglich verstehen, verurteilte ihn jedoch nicht dafür. Sie blieb an seiner Seite, öffnete ihm einen privaten Raum, in dem er den Fernsehabend auch mal in einem Kleid verbringen konnte. Sie redeten miteinander und sie konnte erkennen, wie eine nahezu lebenslange Last von den Schultern ihres Mannes fiel. Nur die Töchter sollten nichts erfahren.


Eine verzwickte Vater-Tochter-Beziehung


Während Uli Decker im Film vor allem dem Leben ihres Vaters nachspürt, Spuren sucht, seine Geschichte aufarbeitet und damit gesellschaftliche Normen anhand eines persönlichen Schicksals in Frage stellt, klingt auch ein privater Aspekt durchgehend mit. Uli selbst hatte bereits in ihrer Kindheit Schwierigkeiten mit der ihr zugeschriebenen Rolle eines Mädchens, so wie die Gesellschaft es gerne sehen möchte. In den Interview-Sequenzen mit ihrer Schwester klingt vorsichtig an, dass Uli wohl kein einfaches Kind bzw. keine einfache Jugendliche gewesen sei oder - von außen betrachtet besser umgekehrt formuliert - dass sie in ihrer scheinbaren Andersartigkeit wohl keine einfache Kindheit und Jugend hatte. Sie selbst kann nicht verstehen, warum ihr Vater sich ihr gegenüber nicht offenbart hat, hätte er seiner mit den Genderrollen der Gesellschaft hadernden Tochter doch ein wunderbarer Verbündeter sein können. Stattdessen hatte er sich zurückgezogen, von ihr scheinbar ganz besonders. Die Beziehung beschreit Uli Decker als kalt und distanziert.


So ist ANIMA zugleich die rückwirkende Aufarbeitung einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, die durch die Verarbeitung des Geheimnisses in diesem Film möglicherweise Licht auf manche kindliche Fragen an den Vater werfen kann, die andererseits zu spät kommt, um die familiäre Bindung zwischen Elternteil und Kind zu verbessern. Ganz sicher ist ANIMA aber auch ein politischer Dokumentarfilm. "Wichtig war mir vor allem, die Zuschauer:innen auf eine innere Reise mitzunehmen, die enge Kategorien sprengt und den Blick öffnet für tiefe menschliche Erfahrungen und den weiten Sehnsuchtshorizont", so Uli Decker im Regiekommentar. Es scheint ihr gelungen zu sein - zumindest bei der Jury: "Dabei weist die persönliche Tragödie eines Mannes und seiner Tochter, die an Rollenbildern und gesellschaftlichen Normen zu zerbrechen drohen, weit über die Genderproblematik hinaus und erzählt zudem mit Leichtigkeit und voller Liebe von Befreiung und Emanzipation. Eine universelle Erzählung aus der bayerischen Provinz und Protagonistinnen, denen wir für ihren Mut Respekt zollen."


Was noch gesagt werden muss


Prinzipiell halte ich ANIMA für äußerst sehenswert. Im Film wird Queernes auf eine ganz besondere Art und Weise behandelt, mit Blick auf mehrere Generationen, auf die starke Liebe eines Ehepaars im Zwiespalt zwischen privaten Wünschen und gesellschaftlichen Konventionen. Es gibt allerdings eine kurze Sequenz im Film, die ich deutlich kritisieren möchte. Das Thema Kleidung wird an einer Stelle auch im Zuge des Verkleidens aufgegriffen, zu Fasching. Und sicher können viele von uns sich daran zurückerinnern, dass wir früher Kostüme getragen haben, die wir heute als problematisch einstufen. So sind auch Kinderfotos von Uli Decker in einem Native American "Kostüm" zu sehen. An dieser Stelle nochmal kurz erklärt: Kulturen sind keine Kostüme - und erst Rest nicht Kulturen von Menschen mit Marginalisierungs-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrung. Weiße Menschen, die für diese Erfahrungen verantwortlich sind, sind nicht dazu berechtigt sich diese Identität nach Lust und Laune auszuborgen und "überzuziehen".


Die Fotos werden im Kontext von Gendernormen gezeigt (im Sinne von: lieber männlich konnotierte Kostüme als Prinzessinnenkleider), es wird aber versäumt das Kostüm mit Blick auf kulturelle Aneignung zu thematisieren. Im Gegenteil: Durch die Animationen wird das verkleidete Kind sogar in Bewegung gesetzt, in ein "Wild West Setting" verfrachtet und mit stereotypen Geräuschen und Montagen in Szene gesetzt. An dieser Stelle also eine klare Triggerwarnung zum Thema kulturelle Aneignung für diese Sequenz des Films.


Zum Film


ANIMA - Die Kleider meines Vaters

Dokumentarfilm | 94 Minuten

Premiere: Deutschland 2022

Regie: Uli Decker

Buch: Uli Decker, Rita Bacacs

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