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  • AutorenbildTanja

Madame 60a von Henriette Valet

Paris um 1930. Nur wenige Meter von der Kathedrale Notre-Dame entfernt, steht eine Frau in der Kälte vor dem Hôtel-Dieu. Das Krankenhaus ist eine Anlaufstelle für mittellose Schwangere, zu denen auch sie gehört. Kaum hat sie sich überwunden an die große Tür zu klopfen, schon wird sie für einige Tage Teil eines ganz eigenen Mikrokosmos. Rund 80 Frauen warten auf dem Dachboden des Krankenhauses, Bett an Bett, auf ihre Entbindung. Charaktere, Klassen, Nationalitäten, Körper treffen aufeinander. Sie lästern, sie prahlen, sie schreien, sie singen, sie streiten, sie lachen, sie grenzen aus, sie diskriminieren, sie schließen sich zusammen. Sie warten. Worauf? Auf das Leben nach der Geburt. Und das ist von Frau zu Frau verschieden.


Willkommen in der Gebäranstalt


Der gerade geschilderte Einstieg in die Geschichte von Madame 60 a lässt uns auf den ersten Seiten glauben, wir würden die Protagonistin bereits kennen. Und obwohl das nicht ganz falsch ist, so merken wir schon bald, dass es eigentlich die Erzählerin ist, mit der wir die Gebäranstalt des Hôtel-Dieu betreten. Denn obwohl wir hin und wieder ihre gesellschafts- und systemkritische Einstellung anhand kurzer Einblicke in ihre Gedanken erahnen können, so bleibt sie uns doch meist verborgen. Sie ist - scheinbar wie wir - eine Beobachterin, die zwar vor Ort ist, sich aber nicht als Persönlichkeit zu erkennen gibt.


Sie greift nicht ein, wenn ihre Bettnachbarinnen diskriminiert oder gemobbt werden, beteiligt sich nicht am bunten Treiben auf dem Dachboden. Vom Pfarrer und der "Guten Frau", die beide für vermeintlich selbstlose Wohltätigkeit der Bessersituierten (Kirche und Oberschicht) stehen, wird sie als scheinbar einzige übergangen - was ihr mehr als nur recht ist. In Gesprächen mit anderen Frauen hält sie sich bedeckt, gibt nichts über ihre Vorgeschichte, ihre familiäre Situation preis. Nicht mal ihren Namen erfahren wir, nur das Pseudonym Madame 60a, das sie bei ihrer provisorischen Unterbringung in der überfüllten Gebärstation erhält: "Die Trage wird zwischen Bett 60 und 61 geschoben. Ich bin jetzt Madame 60a, ich habe einen Namen." Und - so viel sei verraten - auch das Ende bleibt offen, nachdem wir auf den letzten Seiten doch noch einmal etwas näher an den Menschen aus dem Bett 60a heranrücken.


Dafür erfahren wir umso mehr über ihre Leidensgenossinnen. Manche von ihnen (wie die "Minna" im Nachbarbett, die ihr in der ersten Nacht mit üblem Mundgeruch ins Gesicht atmet oder die hypochondrische "Schnüfflerin", die bei der Visite des Arztes und seiner Schar Studenten mitten im Gemeinschaftssaal als erste den Rock lüftet, das Becken anhebt und die Beine spreizt und hofft, so die meiste Aufmerksamkeit von ihm zu erhalten). Es gibt aber auch Nebenfiguren, die nur kurze Auftritte bekommen: eine charakterlich wohl liebenswerte, von den anderen aber verspottete Frau mit einem Buckel, der durch eine Misshandlung im Kindesalter entstand, eine Sexarbeiterin, die ein unerwartetes Geständnis über ihre Vergewaltigung, aber auch ein starkes Statement für die Rechte von Sexworkerinnen abgibt, Bauernmädchen, sehr junge Familienmenschen, die sich nach Zuhause sehen, Frauen, deren Männer trinken, Polinnen, die kaum Französisch verstehen und in der konstruierten Hierarchie der Gebäranstalt (deren Bewohnerinnen außerhalb des Hôtel-Dieu alle den weniger privilegierten Schichten angehören) am unteren Ende der Nahrungskette stehen. "Unerbittlich registriert sie die Hackordnung: Französinnen gegen Jüdinnen - wobei die Jüdinnen sich ganz klar zu den Französinnen zählen, wenn es gegen die Polinnen geht", heißt es im Nachwort.


Umgang und Ton in der Gebäranstalt sind rau und grob (teilweise sogar beim Lesen nur schwer auszuhalten) - unter den Schwangeren selbst, aber mitgetragen durch die Krankenschwestern und Ärzte. Und so findet sich unausgesprochen doch eine Kritik am System wider, in dem selbst in einem zutiefst menschlichen und medizinisch zu behandelnden Zustand der Schwangerschaft nicht alle Betroffenen die gleichen Voraussetzungen haben.


Zum Thema Triggerwarnungen


Dieses Buch beschäftigt sich mit vielen Diskriminierungsebenen und Triggerthemen, darunter Sexismus, Vernachlässigung, Objektifizierung und Demütigung von Frauen und Kranken, Ableismus, Klassismus, Rassismus, Antisemitismus, Mobbing, Armut, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Gewalt, Dick_Fett-Feindlichkeit, negative Erfahrungen bei der Geburt, Alkohol und Sex Work. Doch was interessant klingt - und durchaus interessant ist - muss vor dem Hintergrund des Entstehungszeitraums betrachtet werden. Für jedes dieser Themen muss ich eine Triggerwarnung aussprechen, da sie nicht theoretisch behandelt und nur ansatzweise kritisiert, sondern in Form des Zusammenlebens der Schwangeren ungeschönt abgebildet und damit eben auch reproduziert werden.


Madame 60a - ein feministischer Roman?


Gerade vor dem Hintergrund des Umgangs mit Triggerthemen bzw. der Art, wie diese in der Handlung dargestellt wurden, habe ich mich häufiger gefragt wie ich Madame 60a aus feministischer Perspektive bewerten soll. Wir alle haben sicherlich schon Bücher gelesen, die historisch betrachtet feministische Literatur darstellen, aus heutiger Sicht aber problematisch sind. Genauso kennen wir Bücher, die die Situation marginalisierter Gruppen abbilden und damit reproduzieren, die aber trotzdem als Zeitzeugen der Unterdrückung und Diskriminierung eben dieser Gruppen gelten. Glücklicherweise wird man nach dem Ende der Geschichte nicht ganz ratlos zurückgelassen.


Was mich an "Madame 60a" tatsächlich am meisten begeistert hat, ist das Nachwort. Es wurde von Norma Cassau geschrieben, die auch für die Übersetzung des französischen Originals ins Deutsche verantwortlich ist, und nimmt die Lesenden auf nur wenigen Seiten mit auf einen Ritt durch zahlreiche Aspekte feministischer Literaturwissenschaft.


Es geht um Henriette Valet, für die es keine Einträge in Literaturlexika gibt - nicht für ihre literarischen Texte, nicht für ihre journalistische Arbeit für linke Arbeiter- und Gewerkschaftsblätter und nicht mal als Ehefrau von Henri Lefebvre. Es geht um das Vergessen historischer Autorinnen und um das Verdrängt werden aus der Literaturgeschichte, da "Frauenthemen", wozu Schwangerschaft und Geburt zählten, als trivial galten. Es geht um diese besondere Adaption des Motivs der "Madwoman in the attic", der verrückten Frau auf dem Dachboden und um die Frage autobiografischer Bezüge zwischen Madame 60a und Henriette Valet. Es geht auch darum, ob es sich überhaupt um einen Roman handelt und wie dieses Portrait in seine Entstehungszeit einzuordnen ist.


Aber wollte ich das alles in dieser Rezension darlegen, müsste ich vermutlich das gesamte Nachwort abtippen. Daher beschränke ich mich darauf zu sagen: Wenn du dieses Buch liest, darfst du dich vor allem auf die letzten 11 Seiten freuen, auf denen sich für mich einige meiner Fragen und Zweifel geklärt haben.


Über den Verlag


Der Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" widmet sich vergessenen Büchern und Gedanken. "Dieses Ziel verfolgt ein Kuratorium von Gesellschaftern [die sich kein Gehalt auszahlen] mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und Liebe zur Buchkunst, um den jahrhundertealten Errungenschaften der Buchkultur ein schillerndes Mosaiksteinchen hinzuzufügen. Dabei wird ein für den Buchhandel ungewöhnlicher Weg eingeschlagen. Die Kuratoren, die seit Jahren im Verlagswesen und in der Literatur unterwegs sind, machen unabhängig, gemeinsam und im laufenden Austausch Programm", schreiben Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth auf der Seite des Verlags. (Für meinen Geschmack dürfte es in den Reihen der Gesellschafter gerne ein bisschen mehr Diversität geben, aber das nur am Rande.)


Sie betonen außerdem die liebevolle Gestaltung der jährlich 6 - 8 verlegten Büchern, wobei ich nur zustimmen kann. Der textil anmutende Einband, der Kopfabschnitt, die Prägung und das Lesebändchen sorgen dafür, dass man das Buch wirklich gerne in die Hand nimmt und anschaut. 2017 und 2020 wurden die Publikationen des Verlags von der Stiftung Buchkunst unter die Schönsten Deutschen Bücher des Jahres gewählt. 2020 und 2021 wurde Das Kulturelle Gedächtnis außerdem mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet, 2021 zudem mit dem Berliner Verlagspreis.


*Unsere Autorin Tanja hat "Madame 60a" als Rezensionsexemplar vom Verlag Das kulturelle Gedächtnis erhalten. Ihre Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst.*

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