Ungefilterter Einstieg ins Buch
Zu Beginn von Nora Burgard-Arps dystopischem Roman steht die Protagonistin in ihrem heimischen Badzimmer in Hamburg. In der gewohnten, eigentlich sicheren Umgebung, steht sie über die Badewanne gestützt und bringt sich selbst in Gefahr. Ohne medizinische Begleitung, nur bewaffnet mit einem Kleiderbügel geht Mathilda ihrem Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper nach, welches ihr nach rechtlichen Gesichtspunkten nicht mehr zusteht. Eine bedrückende Szene, die man da liest. Deshalb aber auch eine gut durchdachte Setzung für den Einstieg in „Wir doch nicht“.
So richtig kuschelig wird es nämlich nicht.
Die Autorin schafft es einen durchgehend bedrohlichen Unterton zu etablieren, der die Stimmung in dem, in naher Zukunft spielenden, Roman wunderbar auffängt. Genau wie die Hauptfigur, ist man als lesende Person ständig alarmiert.
Und das liegt nicht nur an dem Abtreibungsverbot, sondern an weiteren abstrusen Neuerungen, die in dem binären System ausschließlich für Frauen vorgesehen sind. So auch die deutschlandweiten Frauenstammtische, an denen alle Frauen aus einer Nachbarschaft wöchentlich teilnehmen müssen um sich dort über Schwangerschaften, Kinder und ihre Ehe auszutauschen. Zudem gibt es Vitamine sowie Tees, die die Fruchtbarkeit ankurbeln sollen. Außerdem eine Praxis die sich atmen nennt und aus einem Spaziergang in einem extra zugeteilten Waldstück besteht.
Wie konnte es so weit kommen?
Neben der Beschreibung der gegenwärtigen Lage, gibt es immer mal wieder Rückblenden in eine Zeit vor dem Systemwechsel. Hier werden Verweise darauf gemacht, wie es zum drastischen Ist-Zustand kommen konnte. Interessant dabei ist die Verflechtung von heutigen rechten und undemokratischen Strukturen mit der Erzählung. So ist die Regierungspartei der Geschichte (SfDD - Sieg für Deutschland und die Deutschen) eine radikalisierte Abspaltung der AFD mit Einflüssen aus der Querdenkerbewegung.
Neben diesen Entwicklungen geht es bei den Rückblicken vordergründig um Mathildas Mutter, die als feministisch und politisch aktiv charakterisiert wird. In der gegenwärtigen Erzählung ist sie mit einer Freundin gemeinsam ausgewandert um sich dem tief patriarchalen Gesellschaftswandel zu entwinden. Aus den Erinnerungen mit ihr, zieht Mathilda nicht nur Kraft, sondern immer mehr auch einen Willen sich gegen den Lauf ihres jetzigen Lebens aufzulehnen.
In guten wie in schlechten Zeiten..
Zentraler Bestandteil vom Roman ist die Beziehung zu ihrem Mann Finn. Dieser fühlt sich in der auf ihn zugeschnittenen Gesellschaft pudelwohl. Das einzige was ihm zu seinem Erfolg noch fehlt sind Kinder. Diese würden sein soziales Standing abrunden und ihm zum nächsten Tritt auf der Karriereleiter verhelfen. Doch gerade die bleibt Mathilde ihm „schuldig“. Diese „Lücke“ sorgt immer häufiger für Reibungen innerhalb ihrer Partnerschaft. Finn ist dabei ein Paradebeispiel, für einen Mann, der von den patriarchalen Bedingungen profitiert, die seine Partnerin isolieren und zur Verzweiflung bringen. So erkennt man schnell, dass er ein rechthaberisches und besitzergreifendes Verhalten an den Tag legt, wenn es um Mathilda und ihre Zukunft geht. Züge von psychischer Gewalt sind ebenfalls zu erkennen. Spannend zu beobachten bei Finn ist die Radikalisierung seines Verhaltens durch die Bestätigung, die er aus der Gesellschaft bekommt. So ist auch er in den Rückblenden präsent und man kann sich die Frage nach dem „Wie konnte es soweit kommen?“ anhand seiner Entwicklung beantworten. Der Verlust von Macht einer Person, bedeutet den Zugewinn an Macht einer anderen.
Freundschaften in der Dystopie?
Auch die teils erzwungenen, teils gewollten Freundschaften von Mathilda sind zentral im Roman. Natürlich pflegt sie diese ausschließlich zu anderen Frauen in ihrem Alter. Darunter ist auch Frieda. Eine Freundin, die sie bereits seit ihrer Jugend kennt, die sich allerdings im System besser zu Recht gefunden hat, als es die Protagonistin tut. So ist eine klare emotionale Distanz zu erkennen zwischen den ehemals besten Freundinnen, die auch in der Tatsache begraben liegt, dass Frieda mittlerweile mehrfache Mutter ist und sich in dieser Rolle bestens eingelebt hat.
Zum Kipppunkt kommt es, als eine Frauenfigur auftaucht, die sich den neuen Normen verweigert und Mathilda damit zum aktiven Umdenken bringt, während das Regime um sie herum immer brutaler wird..
Meine Leseeindrücke
(Anti)Feministische Dystopien haben mich in der Vergangenheit immer wieder enttäuscht, sodass ich lange überlegt habe, als ich das Angebot von Nora in unseren DMs gelesen habe. Nichts desto trotz habe ich zugesagt und einen neuen Versuch gewagt. Ein paar Tage später lag das Buch auf meinem Schoß und ich war sehr angetan vom graphischen aber dennoch schlicht gehaltenen Cover. Als ich es dann durchblätterte fielen mir zuerst die kleinen und großen Zeichnungen von Iris Ott auf, mit denen der Roman geschmückt ist. Die Ausstattung also schonmal sehr schön!
Der Roman ist mit seinen 224 Seiten ein wahres Leichtgewicht. Neben der bedrückenden Stimmung, kann man „Wir doch nicht“ also locker runterlesen. Für meinen Geschmack allerdings etwas zu locker. An vielen Stellen hätte ich mir eine tiefere Ausarbeitung von Situationen und Figuren gewünscht. Wollte „Nicht so schnell, bitte!“ rufen, was letztendlich für eine Story spricht, die mich so mitgenommen hat, dass ich gerne noch mehr gehabt hätte. Einige Hintergründe hätten mich als Lesende Person noch tiefgehender interessiert und auch das ein oder andere Plothole gab es durch die Hetzerei. Wer allerdings kurze Bücher bevorzugt und kein Commitment für 500+ Seiten eingehen will, der finden in diesem Buch ein perfect match.
Ich empfand den „Was wäre wenn..“ Gedanken, in Hinblick auf die AFD und die Querdenker als einen total interessanten und furchteinflößenden Ausgangspunkt für einen Roman. Auch wenn ich mich Stellenweise an Atwoods modernen Klassiker „Report der Magd“ erinnert fühlte. Wobei die Frage ist, ob man überhaupt realistische Dystopien schreiben kann, die nicht auf irgendeiner Ebene an sie erinnern. Gerade wenn man den gleichen Themenschwerpunkt bedient. Trotzdem war die Verlagerung des Gedankenspiels nach Deutschland total aufregend und beim Lesen wesentlich näher an mir und meiner Lebensrealität dran.
Empfehlung für...
Zusammenfassend lässt sich von meiner Seite sagen, dass ich sehr in die Geschichte rund um Mathilda vertieft war, so tief sogar, dass ich mir gewünscht hätte noch intensiver in die Funktionsmechanismen dieser Gesellschaft eintauchen zu können und vor allem noch mehr Zeit mit einzelnen Charakteren verbracht hätte. Wer allerdings eine knackig kurze Dystopie sucht, der ist vollkommen richtig und bekommt sogar noch ein wunderbar ausgestattetes Buch dazu!
CW: Beschreibung einer selbst durchgeführten Abtreibung, psychische & physische Gewalt, Mord.
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