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  • AutorenbildTanja

Ich habe einen Namen von Chanel Miller

Wenn die Besprechung des Monatsbuchs beim Buchclub-Treffen mit "Na, wann habt ihr zum ersten Mal geheult?" beginnt, steht fest: Chanel Millers "Ich habe einen Namen" war mit Abstand das emotionalste Buch, das wir bisher gelesen haben. Es macht traurig und unvorstellbar wütend. Man fühlt die Ohnmacht der Protagonistin und die eigene Ratlosigkeit - über die kompletten 470 Seiten hinweg. Sicherlich keine Wohlfühllektüre, aber ein wichtiges und herausragend geschriebenes Buch.


Triggerwarnung für diesen Blogpost: sexualisierte Gewalt & Victim Blaming



Worum geht's?


Chanel Miller war 22, als sie im Jahr 2015 nach einer College Party im Krankenhaus aufwacht, ohne eine Idee wie sie dort hingekommen sein könnte. Im Laufe der folgenden Stunden wird ihr mitgeteilt, dass sie vermutlich Opfer einer Vergewaltigung geworden ist. Doch Details dürfen nicht preisgegeben werden: Obwohl es sich um ihren Körper handelt und sie die Betroffene ist, ist sie zugleich auch eine Zeugin, die in ihren Erinnerungen nicht beeinflusst werden soll. Die Einzelheiten der Tat (dass sie bewusstlos hinter einem Müllcontainer ausgezogen und vom damals 19-jährigen Brock Turner gefingert wurde, wobei er von zwei Studenten unterbrochen wurde, die ihn stellten) erfuhr sie selbst erst aus Medienberichten.


Ohne wirklich zu wissen was sie erwartet, klagte sie ihren Peiniger an und musste sich in Folge dessen durch einen 18 Monate andauernden Prozess kämpfen, der nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch in den Medien stattfand. Denn der Täter, der sein Vergehen leugnete, stand am Beginn einer vielversprechenden Sportkarriere und war demnach kein Unbekannter. Im Zuge der Urteilsverhängung las Chanel Miller, die damals zu ihrem eigenen Schutz nur als Emily Doe benannt wurde, ein Statement vor, mit dem sie sich an den Vergewaltiger richtete und womit sie nach einer Veröffentlichen bei BuzzFeed Millionen von Menschen berührte.


Einblicke in das Leben einer Überlebenden


Wie schlimm eine Vergewaltigung sein muss, können sich nur Menschen vorstellen, die eine erleiden mussten. Und doch nimmt dieses Buch seine Leser*innen mit in die Gefühls- und Gedankenwelt Chanel Millers. Wir erleben ihre Höhen und Tiefen, die Momente von Stärke, in denen sie ihren Schmerz zum Schutze ihrer Familie überspielt, in denen sie versucht sich einen Alltag abseits des Geschehenen aufzubauen, indem sie wegzieht, eine Kunstschule besucht und als Comedian die Bühne besteigt. Aber auch die schmerzlichen Momente, in denen sie vor Gericht zu schluchzen beginnt, sie ihren Job aufgeben muss und in der eigenen Wohnung die Tür mit Möbeln verrammelt, als ihr Freund aus beruflichen Gründen einmal nicht neben ihr einschlafen kann. Wir spüren die Erleichterung, als die Jury Brock Turner in allen Anklagepunkten für schuldig befindet. Und wir fallen tief, als der Richter trotz dieser Einschätzung nur sechs Monate im County Jail anordnet, die aufgrund guter Führung letztlich nur zu drei Monaten werden.


Und auch nach dem Prozess ist die Tat nicht vergessen. Immer wieder trifft Chanel Miller ihre alltäglichen Entscheidungen danach, ob sie sie vor Gericht rechtfertigen könnte. Auf Partys misst sie ihre Getränke ab, um auf die Frage "Wie viel haben Sie getrunken?" antworten zu können. In Gedanken an frühere Nachtbade-Ausflüge fragt sie sich, wie sie sich wie sie hätte argumentieren können, angetrunken und ohne Kleidung zum Schwimmen gegangen zu sein. Zu tief sitzen die Fragen der Anwält*innen, die immer wieder darauf anspielen, dass sie sich in der Nacht der Tat durch ihr Trinkverhalten selbst in Gefahr begeben habe. Dass sie in einer Sprachnachricht an ihren Freund eventuell eine sexuelle Anspielung gemacht habe und daher offensichtlich erregt gewesen sei. Ob sie denn nicht doch den sexuellen Kontakt mit dem Angeklagten gewollt oder zumindest durch ihre Fahrlässigkeit selbst verschuldet hätte.


Warum solltest du dieses Buch lesen?


Auf dem Buchrücken findet sich ein Zitat von Margarete Stokowski: "Ein Buch, das Hoffnung gibt. Möge Chanel Millers Mut ansteckend sein." Tatsächlich empfanden wir die Geschichte überhaupt nicht als ermutigend. Ganz im Gegenteil! So viel Fassungslosigkeit, die wir gegenüber des amerikanischen Rechtssystems verspürten, Ekel mit Blick auf die naive Gutgläubigkeit der Fürsprecher*innen des Täters, Wut wegen des fehlenden Einfühlungsvermögens von Medienschaffenden oder Kommentator*innen im Internet. Ob eine betroffene Person nach dem Lesen dieses Buches eher den Schritt vor Gericht wagen würde, bezweifeln wir. Doch eines wird ihr klar werden: Sie ist nicht alleine.


Durch die Zusage zur Veröffentlichung ihres Statements hat Chanel Miller das Wort ergriffen. Sie hat die passive Position, die ihr als "das Opfer von" zugeschrieben wurde, selbstbestimmt verlassen und ihre Perspektive öffentlich gemacht. Damit hat sie unzähligen Menschen aus der Seele gesprochen, hat sie berührt und es letztendlich sogar geschafft, dass der Richter, der das lächerliche und unzureichende Urteil aussprach, 2018 abgewählt wurde.


So gerne wir diesen Blogpost mit diesem positiven Wir-Gefühl abschließen würden: Wir halten es für das falsche Signal. So viele Missbrauchsfälle wurden alleine seit der Tat an Chanel Miller bekannt. #MeToo hat angeblich weltweit Augen geöffnet. Und doch passiert es immer und immer wieder. Trotzdem sagen wir jungen FLINTA*, unseren Freund*innen, sie sollen uns schreiben, wenn sie abends Zuhause angekommen sind. Trotzdem bleiben wir in Clubs zusammen und achten auf unsere Drinks. Trotzdem mahnen Eltern ihre Töchter keine freizügige Kleidung zu tragen. Noch immer glauben und vermitteln wir, es sei die Aufgabe potentieller Opfer sich selbst zu schützen, während der Ex-Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika über Vergewaltigungsopfer lacht¹ und mit seinen nicht-konsensuellen² sexuellen Übergriffen prahlt³. Während nach dem Mord eines Polizisten an einer Londonerin⁴ die Welle der Empörung zu großen Teilen wieder nur von FLINTA* ausgeht, während zahlreiche cis Männer lieber #NotAllMen skandieren. Ja, wir wissen, dass nicht alle Männer Täter sind. Aber wissen eben nicht welche und so müssen wir uns durch Misstrauen und Vorsicht schützen - weil es sonst niemand tut.


So aufgewühlt wir beim Lesen dieses Buches in den ersten April-Tagen waren, so unverändert fühlen wir uns auch jetzt beim Schreiben dieses Blogposts noch. Wir wünschen uns, dass das Entsetzen nicht aufhört, der Widerspruch und Protest nicht verstummt, bis sexualisierte Gewalt und die Angst davor endlich nicht mehr Alltag von FLINTA* ist.


Triggerwarnung für das Buch: sexualisierte Gewalt, Victim Blaming, Suizid, Amoklauf


¹ Donald Trumps Kandidat für den Vorsitz des Supreme Courts, Brett Kavanaugh, wurde 2018 von Prof. Christina Blasey Ford wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt. Da das Opfer erst Jahrzehnte nach der Tat aussagte, konnte sie sich an einige Einzelheiten nicht mehr erinnern. Trump äffte sie bei einer öffentlichen Rede vor Publikum nach: "'Wie sind Sie nach Hause gekommen?' - 'Ich kann mich nicht erinnern.' 'Wie sind Sie dorthin gekommen?' - 'Ich kann mich nicht erinnern', 'Aber ich habe ein Bier getrunken. Das ist das einzige, woran ich mich erinnere.'" Das Publikum jubelte und Trump fügte hinzu: "Und das Leben eines Mannes ist ruiniert. Das Leben eines Mannes ist zerstört." Kavanaugh wurde trotzdem an den Obersten Gerichtshof berufen. Die Anschuldigungen gegen ihn, denen sich weitere Frauen anschlossen, konnten nicht bewiesen werden.

vgl. u.a. Chanel Miller: Ich habe einen Namen. S. 441. oder "Trump verspottet Kavanaugh-Anklägerin" in: Süddeutsche Zeitung am 3.10.2018: https://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-richterkandidaten-trump-verspottet-kavanaugh-anklaegerin-1.4154244


² Nicht-konsensuell bedeutet ohne einvernehmliche Zustimmung aller beteiligten Personen.


³ Während Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf wurde eine scheinbar ohne sein Wissen mitgeschnittene Tonaufnahme veröffentlicht, die ein früheres Gespräch mit dem TV-Moderator Billy Bush dokumentierte. Beide Männer äußerten sich sexistisch und abfällig über Frauen. Besonders hervorgestochen ist Donals Trumps höcht problematischer Satz: "Grab em by the Pussy".

vgl. u. a. "Trump: Ich habe es versucht, sie zu f*****" in: Süddeutsche Zeitung am 8.10.2016: https://www.sueddeutsche.de/politik/us-wahl-trump-ich-habe-es-versucht-sie-zu-f-1.3196495


⁴ Anfang März 2021 wurde die 33-jährige Sarah Everard von einem Polizisten entführt und ermordet, nachdem sie am Abend das Haus einer Freundin verlassen hatte.

vgl. u.a. Carolina Schwarz: "Vertrauensproblem" in: taz am 15.3.2021: https://taz.de/Tod-von-Sarah-Everard/!5755122/

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