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  • AutorenbildTanja

Untenrum frei von Margarete Stokowski

"Wir können nicht untenrum frei sein, wenn wir es obenrum nicht sind, und umgekehrt", schreibt Margarete Stokowski und die Erklärung folgt auf dem Fuße: "Das 'Untenrum' ist der Sex und das 'Obenrum' unser Verständnis von uns selbst und den anderen - und beides gehört zusammen." (S. 143) Damit ist schonmal der Rahmen gespannt für ihr Buch, das kein Manifest sein soll, für uns aber irgendwie doch eines ist. Denn auch wenn keine politisch verorteten Absichten und Ziele verkündet werden, so wird jeder*jedem, die*der dieses Buch liest, klar, wie es sich anfühlt in einem patriarchalen System aufzuwachsen und was die logische Konsequenz davon sein muss: Feminismus.


Blick ins Buch


Beim Einstieg in das erste Kapitel lernen wir die 4-jährige Margarete kennen. Gerade hat sie ein tolles neues Fahrrad bekommen und startet erste Fahrversuche. Einer davon geht schief und der Lenker des Rades trifft beim Sturz genau zwischen ihre Beine. Aua! Doch wie soll sie aussprechen was passiert ist, wenn es für "Untenrum" nicht mal einen richtigen Begriff zu geben scheint? Und schon sind wir mitten drin in wichtigen feministischen Themen wie dem Umgang mit dem eigenen Körper, Aufklärung, Scham und Behandlung geschlechtlicher Unterschiede.


Seite für Seite begleiten wir die heranwachsende Margarete durch die Zeit der plötzlich auftauchenden Brüste, ersten Tangas und beginnenden gesellschaftlich verordneten Instandhaltungsarbeit am weiblichen Körper. Wir stellen uns mit ihr den Fragen, deren Antworten uns früher brennend interessiert haben und gleichzeitig noch so fremd waren und die Dr. Sommer und Kolleg*innen in den Zeitschriftenredaktionen von Mädchen, InStyle, Cosmopolitan & Co eher schlecht als recht beantwortet haben.


Im vierten Kapitel stößt zum persönlichen Erfahrungsbericht aus dem Leben eines Mädchens ein Blick in die späten, angeblich sexuell revoltierenden 1960er, aus denen auch die zweite Welle der Frauenbewegung hervorging. Das darauffolgende Uni-Kapitel schließt daran mit den Grundlagen des Feminismus an - ein Begriff, mit dem sich übrigens auch Margarete Stokowski erst anfreunden und den zu verstehen sie erst lernen musste.


Das Buch endet mit zwei sehr unterschiedlich klingenden Titeln, einer "Poesie des Fuck You" und der Liebe. Ersteres richtet sich an Aktivist*innen oder zumindest überzeugte Feminist*innen, die aufgrund ihrer Position unweigerlich Gegenwind erhalten werden und sich diesem entgegensetzen müssen - weil es wichtig ist, für die eigenen Ideale einzustehen um etwas verändern zu können. Dass die Beziehungsebene erst im letzten Kapitel zur Sprache kommt, liegt vermutlich am chronologischen Aufbau des Buches: ernsthafte Beziehungen, Hochzeiten, das Gründen einer Familie, Kinderkriegen und vor allem Kinderversorgen stehen für Stokowski am Ende dieses Buches - bei dessen Fertigstellung sie selbst 30 Jahre alt war. Und doch klingen die letzten Worte fast ein bisschen nach einer alten Lady, die auf ihr Leben zurückblickt. Zugleich wird der Gedanke des Vorworts aufgegriffen, dass dieses Buch kein Manifest sein kann, da es Gedanken nicht zu einem Ende bringt, sondern diese anstößt und zum Weiterdenken und -kämpfen animiert:


"Ich habe in den dreißig Jahren, in denen ich lebe, schon an vieles geglaubt, an die Liebe und die Hoffnung und an einzelne Menschen und mich selbst und jeden Glauben zwischendurch verloren und wiedergefunden. [...] Ich habe ans Aufstehen und ans Liegenbleiben geglaubt, an die Ruhe und den Sturm, und ich weiß nicht, was noch kommt und woran ich in meinem Leben noch glauben werde, aber ganz sicher niemals ans Schweigen." (S. 230)


Triggerwarnungen


An zwei Stellen im Buch wird sexuelle Gewalt beschrieben. Beide Abschnitte werden im Vorwort inkl. Seitenzahl zum möglichen Überspringen oder darauf Vorbereiten genannt. Wir möchten zu diesen Warnungen noch zwei weitere hinzufügen: Auf S. 100 wird Magersucht thematisiert, gefolgt von Ausführungen zu problematischen Körperdarstellungen, die Gewichtsverlust propagieren. Außerdem steht auf den Seiten 112 - 114 eine Passage zu selbstverletztendem Verhalten.


Unser Fazit: Read it!


Als wir uns dieses Buch von unserer Leseliste ausgesucht haben, hatten die meisten von uns es schon einmal gelesen. Und doch waren alle innerhalb weniger Sekunden davon überzeugt, dass "Untenrum frei" die Konkurrenz-Bücher gnadenlos aussticht und in keinem feministischen Buchclub fehlen darf. Margarete Stokowski schafft es, die Missstände nicht nur anzuprangern, sondern sie humorvoll und nahbar zu verpacken, sodass wir an unzähligen Stellen das Gefühl hatten, Margarete wäre damals eine unserer Freund*innen gewesen und würde unsere eigene Geschichte nacherzählen. Und zwar so, dass alle sie verstehen können, egal ob Feminismus-Einsteiger*innen oder Expert*innen. Auch wenn wir die unzähligen feministischen Debatten, die in diesem Buch angeschnitten werden, schon kennen, gab es beim (Wieder-)Lesen keine Minute der Langeweile.


"Können wir ein Buch, das erst fünf Jahre alt ist, schon als Klassiker bezeichnen?", haben wir uns gefragt. Wir tun's einfach und sprechen eine fette Leseempfehlung für Margarete Stokowskis "Untenrum frei" aus: Besorg dir das Buch, lies es, spricht darüber, verleihe oder verschenke es. Gib es an junge Menschen weiter, die mehr und bessere Dinge über Geschlecht und Sex lernen sollen als "Der Mann dringt mit seinem Glied in die Scheide der Frau ein". Wir sind uns ganz sicher, dass sie sehr viel daraus mitnehmen werden.



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