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Unlearn Patriarchy

"'Sind wir die Richtigen?'"

Der erste Satz des Buches ist zugleich die Auseinandersetzung mit einer drängenden Frage, die sich die Herausgeberinnen von Unlearn Patriarchy gestellt haben. Eine Frage, die auch uns begleitet, wenn wir versuchen uns und andere für Diskriminierungen zu sensibilisieren, die uns selbst nicht betreffen. Die Antwort folgt schnell: Nein. Klingt erstmal unglaubwürdig, schließlich lese ich sie ja, aus dem 288 Seiten lange Buch in meinen Händen. Das Nein ist allerdings auch nur der erste Teil der Antwort. Denn die Notwendigkeit für ein Buch, welches sich mit den patriarchalen Gegebenheiten beschäftigt, die tagtäglich (un)bewussten Einfluss nehmen auf die Art, wie wir leben, die sehen die Herausgeberinnen unbedingt. Es gibt einiges zu verlernen, auch für sie. Warum also nicht Menschen finden, die von den Wirkungsweisen des Patriarchats beeinflusst sind und sie über ein Gebiet schreiben lassen, in dem sie aktiv verlernen oder sogar bereits verlernt haben.

Neben dieser Grundidee finde ich noch eine weitere Sache bemerkenswert an der Arbeit von Lisa Jaspers und Naomi Ryland, bevor wir dann in die inhaltliche Auseinandersetzung ihrer Sammlung gehen: Sie erkennen das Mitwirken ihrer Lektorin an dem Buch als eine genauso wichtige Aufgabe an, wie ihre eigene, weshalb neben den beiden auch Silvie Horch als Herausgeberin auf dem Buchrücken vermerkt ist.


Zur Strukturierung des Buches


Unlearn Patriarchy versammelt unter diesem Prinzip sechzehn Autor*innen, die, so wie wir feststellten, oftmals über Themen schrieben, die wir überhaupt nicht in erster Linie mit ihnen in Verbindung gebracht hätten. Größtenteils schrieben die Autor*innen Essays, aus meiner Erinnerung heraus fällt mir mit Unlearn Geld nur ein einziges Kapitel ein, welches sich dieser Form entzieht - aber dazu später noch mehr. Herausgekommen sind letztendlich fünfzehn Kapitel, denn Unlearn Rassismus wird im Dialog zwischen Olaolu Fajembola und Tebogo Nimindé-Dundadengar verhandelt. Neben dem oben bereits erwähnten Intro und den Unlearnings findet sich außerdem ein nachgestelltes Kapitel mit Kurzbiografien aller Beteiligten.


Durch die Fülle der Inhalte, werde ich nicht dazu kommen allen Kapiteln gebührend Platz einzuräumen. Die Auswahl der hier beschriebenen Inhalte resultiert vor allem aus persönlichem Interesse am Gelesenen, aber auch an Themen, die in der Buchclubbesprechung viel Raum einnahmen.


Unlearn Technologie


„Als ich beim vorletzten Kapitel von „Unlearn Patriarchy“ angekommen bin, hätte ich fast einen riesigen Fehler gemacht und „Unlearn Technologie“ von Kenza Ait Di Abbou übersprungen.“ So schreibt es Tanja für den Instagam Post Kann künstliche Intelligenz diskriminieren? und formuliert es auch ähnlich bei unserem Treffen. Wir stellen schnell fest, dass sie nicht die einzige ist, der es so ging. Ob das wohl an unserer weiblichen Sozialisierung liegt? Die in dem Kapitel aufgeführte Statistik, die besagt, dass sich Jungen bereits in der fünften Klasse unbegründet höhere Kompetenzen in Mathematik zuschreiben, als es Mädchen tun, bekräftigt unseren Gedankengang.


Neben solchen Fakten, die sich auf eine frühe Entwicklung beziehen, macht Kenza auf das Ungleichgewicht innerhalb der Branche aufmerksam. So fehlt es den meisten Technikfirmen an Perspektiven, die nicht cis het white Dudes sind. Aus dieser Leerstelle innerhalb von Unternehmen und in der Forschung entstehen unzureichende Produkte, wie zum Beispiel Gesichterkennungsoftwares, die Schwierigkeiten haben, die Gesichter von PoC zu erkennen oder Kontrollinstanzen, die der Sicherheit aller Menschen dienen sollen, die allerdings ausschließlich an den Standards von cis Männern ausgerichtet werden. Aber auch Lösungsansätze finden sich in dem Kapitel, so erzählt die Autorin vom „Panel der Vielfalt“, einer Gruppe an divers zusammengestellten Menschen, die innerhalb eines Unternehmens auf diese Leerstellen hinweisen und sie im besten Fall gleich füllen soll.

Damit diese Stellschrauben nicht immer erst im Nachhinein verstellt werden müssen, ist es sinnvoll schon bei der Stellenausschreibung auf passende Formulierungen zu achten. Diesen Punkt empfand ich als besonders interessant, da er „gendern“ beziehungsweise gendergerechte Sprache auf ein ganz neues Level anhebt. So geht es nicht nur darum, die Jobbezeichnungen nicht ausschließlich im generischen Maskulinum zu schreiben, sondern auch darum, mit welchen Worten die Ausschreibungen formuliert werden. Kenza führt als Beispiel das Wort „durchsetzungsstark“ an, welches bei potenziellen Bewerberinnen nicht als neutral, sondern als negativ wahrgenommen wird und dafür sorgt, dass sich weniger weiblich sozialisierte Menschen auf eine Stelle bewerben.


Unlearn Wissenschaft


Auch vorm Kapitel Unlearn Wissenschaft stocke ich kurz, weil ich befürchte, dass es langweilig werden könnte. Absolut unbegründet, wie sich im Nachhinein herausstellt und wie mir eigentlich auch schon vorher klar sein müsste, schließlich beschäftige ich mich in meinem Studium ständig mit der wissenschaftlichen Sphäre, stoße mich an ihren engen Vorstellungen. Auch Friederike Otto macht auf diese Begrenztheit aufmerksam. Sie dekonstruiert in ihrem Kapitel anschaulich, dass Wissenschaft nicht objektiv ist und wie gefährlich diese Annahme ist. Auch in diesem Unlearning finde ich einen klaren Fingerzeig auf die Leerstellen, die die patriarchale Ordnung hinterlässt. So erläutert Friederike das Fehlen von wissenschaftlichen Beiträgen und Perspektiven aus dem globalen Süden, wenn es um Studien geht, in denen die Auswirkungen der Klimakrise analysiert werden. Also gerade die Regionen, die bereits besonders von jenen Auswirkungen betroffen sind und in Zukunft am dollsten mit ihnen konfrontiert sein werden.

Neben diesem Fakt, macht sie zudem auf das vorherrschende Geschlechterungleichgewicht aufmerksam, betont aber auch wie wichtig es ist, ein Support System zu haben. Solche Patriarchats-Buddys, wie Natalie sie in unserem Instagram Post genannt hat, helfen den eigenen Bias zu hinterfragen und somit nicht weiter an der Erhaltung des Patriarchats mitzuwirken, wenn auch nur unbeabsichtigt.


Unlearn Geld


Ein Kapitel, welches bei Dreien von uns einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, ist Unlearn Geld. Warum ich gerade so konkret darauf eingehe, bei wie vielen Menschen von uns der Beitrag von Ise Bosch hängen geblieben ist? Weil ein Buchclubmitglied dem Rat der Erbin Robert Boschs gefolgt ist, welcher folgendermaßen lautet:


„Reichtum bringt Sicherheit, genau die Sicherheit, die anderen fehlt. Keine materiellen Sorgen zu haben, wer ist schon so privilegiert? Menschen, die sich nicht mit den Problemen der Reichen beschäftigen möchten, die Wut empfinden (zu Recht), können jetzt gern zum nächsten Beitrag umblättern.“ S.234

Natalie hat sich also dazu entschlossen, dieses Kapitel zu skippen. Doch warum hallt der Beitrag bei uns anderen nach? Zum einen sticht Unlearn Geld (oder: Felicitas und die Göttin der Verletzlichkeit) allein durch die gewählte Form hervor. Der Beitrag ist nicht wie die anderen in essayistischer Manier verfasst, sondern besteht aus einem autofiktionalen Text. Also einem literarischen Text, so wie eine Kurzgeschichte, die allerdings eine Figur beinhaltet, die erkennbare Ähnlichkeiten mit den Denkweisen der Autorin aufweist. Über diese Herangehensweise baut Ise sich genug Abstand ein, um ihre äußerst privilegierte Position anhand der Hauptfigur Felicitas zu analysieren. Zudem ensteht so ein Sinnbild für viele Menschen aus dieser sozialen Schicht. In der Geschichte passiert handlungstechnisch gar nicht so viel. Felicitas ist in ihrem Wohnzimmer, wartet auf die Ankunft ihrer Partnerin. Ihre Gedankenwelt steht im Fokus dieser Geschichte, in der es um Schuld, einen ethischen Umgang mit mehr Geld geht, als man in einer Lebzeit ausgeben kann. Zudem gibt sie Einblicke in den (für mich) absurden Alltag einer Person, die nicht arbeiten muss, sich eigentlich den Freuden des Lebens hingeben kann, wie man das so schön sagt, das aber doch nicht so 100 % genießen kann.


Meine Leseerfahrung war von viel Irritation geprägt. Irritation über die Lebensrealität, die geschildert wurde, aber auch von Neid. Zu Teilen war ich frustriert von der immer abwägenden Haltung Felicitas, es fühlte sich an, als würde man eine riesengroße Gedankenspirale lesen, die zwar für die Figur eine Daseinsberechtigung hat, allerdings im Großen und Ganzen zu keiner Veränderung führen wird. Und das, obwohl man sich solch eine Veränderung wünscht, schließlich geht es um viel Geld.


Bei Tanja sah die Erfahrung jedoch ganz anders aus. Bei ihr war eine Empfindung vorherrschend. Sie fühlte sich ertappt von den beschriebenen Gedanken der Hauptfigur. Auch wenn sie nicht im gleichen Ausmaß die monetären Privilegien von Ise und Felicitas teilt, ist sie dennoch ohne Geldsorgen aufgewachsen. Dadurch hat sie zum Teil eigene Denkmuster in der Geschichte wiedererkannt. Ein in unserer Runde also wirklich viel diskutierter Beitrag.


Erwartungshaltungen und Unlearnings


Wie am Anfang angekündigt, könnte ich hier noch einige weitere Kapitel aufführen, denen ich viel abgewinnen konnte, wie Unlearn Bildung oder Identität, allerdings reichen meine Kapazitäten gerade nicht aus, um noch tiefer in das Buch einzusteigen (Ha! Ob ich da was zu radikaler (Selbst-)Abgrenzung dazu gelernt habe? Look at me unlearning already) und außerdem soll es für euch ja auch noch Impulse zu entdecken geben, wenn ihr Unlearn Patriarchy lest!


Was ich allerdings noch anmerken möchte ist, dass wir uns, wahrscheinlich auch durch eine hohe Erwartungshaltung, eine Auseinandersetzung mancher Kapitel gewünscht hätten, die in eine andere Richtung ausschlägt, oder noch intensiver in Thematiken eintaucht. So geschehen bei Unlearn Liebe, auch wenn da trotzdem einige spannende Gedanken drin stecken. Don’t get me wrong!

Und letztendlich hat man in einem Kapitel eines Sammelbandes auch nur begrenzt viel Platz, sich dem Thema zu widmen. Also vielleicht lesen wir demnächst einfach mal eine Veröffentlichung, die sich komplett der Liebe widmet, wir werden sehen.


Fazit aka Appell dieses Buch zu lesen


Die Sammlung Unlearn Patriarchy hat mich jedenfalls wirklich überrascht – im positiven Sinne. Ich bin davon ausgegangen, dass viele Themen grob angeschnitten werden und ich kaum neue Erkenntnisse für mich herausziehen kann. Dem war überhaupt nicht so. In jedem Kapitel gab es mindestens (!) einen Punkt, der mich zum Nachdenken angeregt hat und in unserer dreistündigen Buchclubsitzung hatten wir nicht genug Zeit um auf alle Kapitel einzugehen. Also Leute, kauft das Buch, leiht es euch von Freund*innen oder in der örtlichen Bibliothek. Ich kann es euch nur wärmstens ans Herz legen!

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