Willkommen zu einem Themenkomplex, der Feminist*innen gefühlt in zwei Lager spaltet: die Sexarbeit. Da wäre die eine Seite, auf der "Prostitution" (der Begriff Sexarbeit wird hier abgelehnt, da Sex keine Arbeit sei) als Produkt des Patriarchats gesehen wird, als "den Körper verkaufen" und als Einbahnstraße im binären Geschlechtersystem (Männer kaufen Frauenkörper). Und dann ist da die andere Seite, die der Meinung ist, wenn Nein Nein bedeutet, dann müssen wir ein Ja auch als Ja anerkennen: Wenn Personen (egal welchen Geschlechts) ohne Zwang in der Sexarbeit tätig sind und nicht aussteigen wollen, dann ist das ihr gutes Recht und wir sollten solidarisch an ihrer Seite stehen. Their Body, their choice!
Übrigens vermeiden wir es, Sexarbeit als "freiwillig" zu betiteln. Denn auch Sexarbeit ist Lohnarbeit und mal ehrlich: Wer von uns geht schon wirklich aus freiem Willen zu seinem Arbeitsplatz? Wir tun es doch eigentlich alle nur des Geldes wegen. Und nun könnte man sogar noch argumentieren: Wir alle vermieten für dieses Geld ein Stück von uns selbst. Sei es unsere Zeit, unsere Kreativität, unser Wissen oder eben unseren Körper. Natürlich besteht der Unterschied darin, dass wir in unseren nicht (oder anders) stigmatisierten Berufen seltener von Menschenhandel, Gewalt und Missbrauch betroffen sind. Aber diese Verbrechen sind auch im Rahmen von Sexarbeit verboten und dürfen daher nicht mit dem Job an sich verwechselt werden. Wir lehnen jegliche Formen von Zwang und Gewalt ab, sprechen uns aber trotzdem für eine konsensuelle Sexarbeit aus. So viel als Vorbemerkung.
Du hast nun sicher schon gemerkt auf welcher der oben genannten "Seiten" ich stehe. Und aus dieser Richtung stammen auch die Essays unseres Monatsbuchs "Sexarbeit", herausgegeben von Jenny Künkel und Kathrin Schrader im Unrast Verlag. Es handelt sich um einen Sammelband, in dem viele verschiedene Menschen und Gruppen zu Wort kommen. Von Sexarbeiter*innen über Vertreter der Aidshilfe bis hin zu Forschenden und Sozialarbeitenden - darunter auch die Herausgeberinnen selbst.
Worum geht's?
Einen Sammelband zusammenzufassen, ist immer eine Herausforderung. Bei Instagram sind wir auf einzelne Aspekte, die uns wichtig erschienen oder die in mehreren Essays thematisiert wurden, genauer eingegangen. Schau dort gerne mal vorbei.
Was alle Essays grundsätzlich gemeinsam haben: Sie handeln von der Diskriminierung der in diesem Beruf Tätigen - sei es durch gesetzliche Regulierungen wie das "Prostituiertenschutzgesetz" (was gut klingt, aber für Sexarbeitende zahlreiche Gefahren birgt, statt für Schutz zu sorgen) oder mit Blick auf die Stigmata in den Köpfen der Gesellschaft. Es geht um Sexarbeit als Arbeit, die wir nicht verbessern oder sicherer gestalten können, so lange wir über sie schweigen oder sie gänzlich verbieten wollen. Und es geht um Blickwinkel auf Sexarbeit: Die Sicht von Sexarbeitenden selbst und Fragen, die uns die Augen öffnen können. So zum Beispiel in Stephanie Klees Essay, in dem sie die Frage stellt, ob Sexarbeit nicht auch einfach nur eine Form von Care-Arbeit ist und falls nicht: Was unterscheidet die Berufe voneinander?
Viel mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Das Büchlein umfasst nämlich nur 100 Seiten und ich will nicht schon alle Themen vorwegnehmen.
Leseempfehlung - ja oder nein?
Ich beantworte diese Frage direkt: ja! Warum? Das geht aus den vorherigen Absätzen schon hervor. Sexarbeiter*innen wurden bei diesem Buch-Projekt integriert und konnten ihre Ansichten teilen. Auch andere Menschen, die indirekt mit Sexarbeit zu tun haben (z.B. in der Sozialarbeit), kommen zu Wort. Außerdem gibts es inhaltlich viele interessante Infos und Denkanstöße, die in unseren zukünftigen Diskussionen zum Thema - und davon gibt es viele - sicherlich ihren Platz finden werden.
Jetzt kommt noch ein kleines "aber": Der Einstieg in das Buch ist nicht gerade niedrigschwellig. Besonders die ersten Beiträge sind sehr wissenschaftlich-theoretisch geschrieben und ich musste zahlreiche Begriffe erst mal googeln, um den einen oder anderen Absatz inhaltlich verstehen zu können. Mein großes Aufatmen kam mit dem 4. Kapitel, in dem Undine de Rivière darüber sinniert: "Was ist schon normal?" Das war eines der Essays, die mir am besten gefallen haben und die auch gut verständlich waren. Aber auch bei den anderen lohnt es sich, Zeit zu investieren, zuzuhören und ggf. auch mal länger darüber nachzudenken bzw. zu recherchieren. Dafür ist der Umfang des gesamten Buches ja eher gering, sodass man trotzdem keine Ewigkeit brauchen wird, um es durchzulesen.
Allerdings werden - vermutlich auch aufgrund des begrenzten Umfangs - nicht alle Themen angeschnitten, die im Zusammenhang mit Sexarbeit wichtig sind. Das Nordische Modell bspw., das von SWERF (sex work exclusionary radical feminists) als Ideallösung propagiert wird, tatsächlich aber sehr problematisch ist, kommt überhaupt nicht vor. Auch der Diskurs mit den unterschiedlichen Ansichten zu Sexarbeit unter Feminist*innen steht nicht im Vordergrund. Polizeigewalt wird am Rande thematisiert. Es bleiben also noch einige Aspekte offen, über die man sich im Anschluss weiter informieren sollte.
Dafür ist der schmale Sammelband, der in der Reihe transparent des Unrast Verlags erschienen ist, aber auch sehr günstig zu haben. Ein kleiner Beitrag, mit dem du für deine eigene Bildungsarbeit einen Grundstein legen und den Unrast Verlag unterstützen kannst, der aktuell sehr mit den gestiegenen Preisen zu kämpfen hat und sich über jeden Kauf (und jede Spende) freut.
Anmerkung:
Eines unserer Buchclub-Mitglieder hat "Sexarbeit" als Rezensionsexemplar erhalten. Alle anderen (darunter auch Tanja, die diesen Blogpost geschrieben hat), haben das Buch selbst gekauft. Unsere Meinungen wurden dadurch aber nicht beeinflusst.
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