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Muttermilch von Melissa Broder

Triggerwarning: Kalorienanzahlen, Essstörung, Bingeeating, Queerfeindlichkeit


Wenn es um etwas nicht geht in diesem Buch, dann sind es gesunde Beziehungen. Gesunde Beziehungen zu Essen, partnerschaftliche Beziehungen und natürlich zur eigenen Mutter. Worum es auf jeden Fall geht, ist die Suche nach eben diesen.


Das schlechte Verhältnis zu Essen und Ernährung generell saugt die Protagonistin schon mit der Muttermilch auf. Erst als ihr ein 90 Tage Entzug von ihrer Therapeutin empfohlen wird, fängt sie wirklich an ihre eigene Beziehung zu Essen zu überdenken. Es ist dabei kein Entzug von Drogen oder Alkohol, wie man vermuten würde, sondern ein drei Monate andauernder Kommunikationsentzug von ihrer Mutter.


Rachels Tag richtet sich strikt danach, wie viele Kalorien sie zu sich nehmen darf. Dabei schränkt sie niemand anders ein, als sie selbst. Sie geißelt sich vormittags, ist enttäuscht, wenn sie doch Nahrung zu sich nehmen muss bevor die Mittagspause ansteht. Das bedeutet weniger für abends. Sie ist eine Meisterin darin geworden, die Bedürfnisse ihres Körpers zu ignorieren und sie ihrem eigenen unterzuordnen. Auf keinen Fall zu viel Essen, auf keinen Fall zunehmen. Wie gut dünn sich anfühlt, hat sie nämlich bereits in ihrer Kindheit erfahren können. Von ihrer Mutter, die obsessiv ihre Essgewohnheiten kontrollierte.


Als ihr Detox beginnt, geht sie also wie jeden Tag zu ihrem Frozen Joghurt Laden. 180 Kalorien. So viel hat eine Portion. Das weiß sie ganz genau, weshalb sie sich diesen Spaß jeden Mittag gönnt. Ohne Beeren, Sirups, Soßen, Nüsse, Mini-Marshmallows, Gummibären oder Schokolade, denn diese Faktoren sind gefährlich. Sie können nicht klar bemessen werden.

Doch anstelle des üblichen Verkäufers, ist eine junge Frau da. Eine Frau die ihre Wünsche nach der Pumpanzahl ihres Frozen Joghurts nicht respektiert, die ihr mehr gibt, als sie eigentlich will. Eine Frau, die rotbäckig, lächelnd und dick vor ihr steht und der das überhaupt nichts auszumachen scheint. Wie aus einem Paralleluniversum, wie es der Protagonistin scheint, existiert sie in ihrem Körper, ohne dass dieser ihr psychische Leiden zufügt. Rachel ist fasziniert von ihr und lässt sich auf eine Erfahrung ein, die ihr einiges abverlangt. Nicht nur was Essen betrifft. Miriam führt sie in ihre Familie ein, eine herzliche Familie, jüdischer auch als ihre Mutter es ihr vorgelebt hat.

Jedoch auch so in ihrem Glauben verankert, dass sie klare Vorstellungen für die Zukunft ihrer Tochter haben und in dieser gibt es keinen größeren Platz für Rachel. Vor allem gibt es keinen Platz für sie an ihrer Seite.


Der Entzug von ihrer Mutter bringt Rachel nicht nur neue Perspektiven auf den Umgang mit Essen, sondern lässt ihr auch genügend Abstand um eine Seite ihrer Identität wieder auszugraben, die sie schon längst aufgegeben hatte. So werden die 90 Tage ein Anstoß in ein Leben, welches nicht von den Meinungen anderer Menschen bestimmt ist. Aber auch ein Ertasten der eigenen Meinungen, die für sie manchmal noch gar nicht greifbar sind.



Zu diesem Buch hatte ich wirklich intensive Leseeindrücke. Ich muss dazu sagen, dass es das einzige Buch ist, welches ich in meiner aktuellen Leseflaute durchbekommen habe. Und mit durchbekommen meine ich eigentlich durchgerast. Wortwörtlich, ich habe es nämlich auf der Zugfahrt zur Buchmesse hin begonnen und auf der Rückfahrt beendet. Ein wahrer Rausch. Das also, von meiner Seite aus, ein großer Pluspunkt dieses Buches. Des Weiteren muss ich sagen, dass ich es genossen habe einen Einblick in den Alltag einer jüdischen Familie zu bekommen, auch wenn ich schätze, dass die Darstellung dennoch extrem von Klischees geprägt ist. Die Mutter zum Beispiel wurde als extrem homophob dargestellt.




Ein weiterer Eindruck hat sich durch das gesamte Buch gezogen: Hunger. Mir lief zu Weilen wirklich das Wasser im Mund zusammen. Ich konnte den Druck, unter dem die Protagonistin steht, nichts zu essen, nachempfinden, was ich als große literarische Stärke dieser Lektüre wahrnehme. Ich konnte die Speisen aus dem asiatischen Restaurant dampfend und wohlriechend vor mir auf dem Tisch stehen sehen, lies mir einen kalten Löffel mit Frozen Joghurt auf der Zunge zergehen. Diese Qualität des Buches rief jedoch auch die Schuldgefühle auf den Plan, die nicht nur die Protagonistin hat, sondern die ich auch aus meiner eigenen Beziehung zum Essen kenne. Daher auch die Triggerwarnings zu Beginn. Ich kann mittlerweile ganz gut mit solchen Beschreibungen umgehen, die Angabe von Kalorien ging jedoch auch nicht spurlos an mir vorbei. Von daher, look out for yourself!


Mit diagnostizierten Essstörungen kenne ich mich nicht gut aus. Höchstens weil ich Menschen in meinem Umfeld habe, die damit struggeln. Aber eine Sache, die ich aus zahlreichen Unterhaltungen gelernt habe, ist, dass man sie nicht irgendwann einfach überwindet. Sie bleiben Teil deines Lebens, auch wenn man sie zu kontrollieren lernt. Das für mich also eine Schwäche des Buches, da mir das Durchbrechen von Essmustern, welche die Protagonistin Jahrzehnte lang erlernt hat, viel zu einfach vorkam. Es ist schön sich vorzustellen, dass dieser Prozess ein ganz kurzer ist und das auch weil eine besondere Person ins Leben tritt, aber eben sehr unrealistisch.


Hiermit komme ich aber auch zu meinem letzten Leseeindruck. Die Liebesbeziehung zwischen Miriam und Rachel. Diese Beziehung ist vor allem davon bestimmt, dass es sie nicht geben soll. Queerfeindlichkeit und heimliches Herumschleichen inbegriffen. Schön ist, dass die Hauptfigur durch sie eine Wandlung hinlegt. Sie überdenkt die Art, wie sie ihr Leben führt und findet letztendlich mehr zu sich selbst. Auch wenn mir das Ende des Buches trotzdem ein wenig das Herz angebrochen hat.


Ich spreche eine Leseempfehlung für Menschen aus, die es sich zutrauen. Mit mir hat das Buch auf jeden Fall was gemacht. Als ich Zuhause aus dem Zug ausstieg, war ich ein wenig desorientiert, weil ich über einen so kurzen Zeitraum die Geschichte verschlungen hatte. Ein Spaziergang in der Nachtluft hat geholfen, genau wie das Essen, was ich mir bestellt habe.




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