Es ist etwas anderes, einen Film beim Filmfestival Max Ophüls Preis im Kino zu sehen, als ihn zuhause zu streamen. Nicht nur die Atmosphäre und die Größe der Leinwand machen einen Unterschied, auch die Umrahmung des eigentlichen Highlights, des Filmeguckens. Denn nach dem Film - und in diesem Fall war es sogar eine Uraufführung - wird das Regieteam auf die Bühne gebeten um über die Handlung und den Prozess des Filmschaffens zu sprechen. Marina Prados und Paula Knüpling haben dabei gleich zu Beginn klargemacht: Sie sind nicht nur die Macherinnen eines Films über Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt, sie sind auch selbst Betroffene.
Worum geht's?
Schauspielerin Ela (Celine Meral) hat es geschafft: Sie darf Wedekinds Lulu im Theaterstück des bekannten Regisseurs Franz Kramer spielen. Der Probenprozess wird von einem Filmteam begleitet, das ein Making-of zum Theaterstück plant. Schon beim ersten Aufeinandertreffen der Schauspieler*innen mit dem Produktionsteam wird, genauso wie in den folgenden Proben, die einseitige Dynamik sichtbar: Kramer ist der Star, von dem alle schon viel gehört haben, dessen Expertise man schätzt, dessen Ideen ja gut sein müssen - so legt es jedenfalls sein Erfolg nahe. Er will seine Idee des Stücks, sein Bild der Lulu umgesetzt sehen, verkauft seine Inszenierung als feministische und wird von seiner überwiegend cis männlichen Entourage in seiner Rolle des Genies bestärkt.
Die beiden Regisseurinnen schaffen es, diese Momente so absurd darzustellen, dass man ob der offensichtlichen Widersprüche und der köstlichen Mimik von Celine Meral eigentlich nur noch lachen möchte - obwohl die Gesamtsituation so überhaupt nicht zum Lachen ist. Klingt nur schwer vorstellbar? Dann schau doch selbst mal rein! Beim "Festivalfunk", dem Talk-Format des Filmfestivals Max Ophüls Preis, hat Journalist Cals Rolshoven nicht nur mit den beiden Regisseurinnen gesprochen (im Video ab 1:54:20), sondern auch eine sehr aussagekräfige Szene aus "Ladybitch" ausgewählt, um die längst nicht mehr unterschwellige, sondern maximal ausgereizte Ironie einer "Männer-reden-über-Feminismus"-Situation darzustellen (im Video ab 1:59:50).
Lacher gab es im Kinosaal immer wieder. Doch sie wechseln sich ab mit ernsten Szenen, die betroffen machen. Denn mit der Zeit wird nicht nur Ela, sondern auch den anderen Schauspieler*innen klar, dass die Version des Stücks, die da gerade entsteht, nicht ihre ist, dass die ihnen aufgezwungenen Rollen nicht passen und die Hierarchien im Entstehungsprozess des Stücks so starr sind, dass Erniedrigungen und Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung sind. Als das gesamte Team einen ausgelassenen Abend in einer Bar verbringt, eskaliert die Situation letztendlich. Kramer kommt Ela zu nahe, will mehr von ihr als sie von ihm, ignoriert ihr mehrmals klar geäußertes "nein". An dieser Stelle brechen Paula Knüpling und Marina Prados mit dem uns allen so bekannten Narrativ und mit ihrer bisher eher subtil eingesetzten Film-im-Film-Technik (Wir erinnern uns: Als Zuschauer*innen sehen wir ja die meiste Zeit durch die Augen bzw. die Linse eines den Entstehungsprozess begleitenden Filmteams). Dieser Rahmen erhält plötzlich eine ganz besondere Funktion: Der Übergriff wird unterbrochen. Denn das Filmteam, das auch diesen Abend begleitet, legt die Kamera nieder, schreitet ein und legt Ela eine Ausrede zurecht um aus der unangenehmen und gefährlichen Situation auszubrechen.
Dieser Moment scheint eine Kehrtwende im #metoo-Narrativ einzuläuten. Denn auch wenn Ela selbstverständlich mit den Folgen dieses Abends (und den Bedingungen bei den Proben) zu kämpfen hat, tritt sie aus der Position der ohnmächtigen Betroffenen heraus und wird selbst aktiv. "Ela rebelliert, sie will eine starke Lulu spielen. Radikal und frech wandelt sich der Film in der zweiten Hälfte, es ist die Geschichte einer Selbstermächtigung. Ela wehrt sich zusammen mit den anderen Schauspieler:innen", schreibt die Spielfilm-Jury und verleiht "Ladybitch" den Max Ophüls Preis für den gesellschaftlich relevanten Film:
"Dieser Film ist genau das, was man sich als Jurymitglied vom Filmfestival Max Ophüls Preis erhofft: dass junge Filmemacher:innen etwas ausprobieren, experimentieren und etwas riskieren, so dass etwas Neues entstehen kann. Vielen Dank für Euren Mut!"
Diesem Fazit kann ich mich nur anschließen.
Ein rundum ergreifendes Kino-Erlebnis
Für die Premiere von "Ladybitch" hab ich meinen bequemen Streaming-Platz zuhause verlassen und bin ins Kino gegangen - alleine - auch um das Filmteam über seinen Film sprechen zu hören. Der Film selbst war schon maximal empowernd. Ela ist nicht der einzige Charakter, der eine Entwicklung erlebt. Community und Solidarität spielen eine zunehmende Rolle in der Handlung. Ein unterstützendes Umfeld, Safer Spaces und eben auch die schon erwähnte Zivilcourage geben Hoffnung. Zudem klingt, eher untypisch für ein solches Narrativ, eine positive Besetzung von Sexwork mit, eine Rückeroberung des eigenen Körpers und der eigenen Sexualität. Und genauso empowernd war das mutige Gespräch nach dem Film. Denn es gehört sicherlich eine Menge dazu, sich vor das anonyme, im Dunkeln sitzende Kino-Publikum zu stellen und als Antwort auf die erste Frage, wie denn die Idee zum Film entstanden sei, ehrlich zu bekennen, dass man die thematisierten Erfahrungen selbst gemacht hat.
Und auch im Kinosaal machte sich stellenweise Solidarität bemerkbar: Frauen aus dem Publikum bestätigten, dass auch sie solche und ähnliche Situationen durchmachen mussten, dass sie dankbar sind für diesen Film, der das Produkt einer Selbstermächtigung, eine Traumaverarbeitung und zugleich ein Beispiel dafür ist, wie Film und Theater eben auch funktionieren können: solidarisch, empathisch, als Kollektiv, mit möglichst flachen Hierarchien und Mitbestimmungsmöglichkeiten - und das alles trotz begrenztem Corona-Budget und der extrem kurzen Drehzeit von nur 14 Tagen. „Ladybitch ist ein Film, der versucht, ein Licht auf all die Grauzonen des Missbrauchs zu werfen, die oft übersehen werden, aber nicht weniger schmerzhaft oder zerstörerisch sind. Er spricht über das unsichtbare Trauma hinter Machtmissbrauch, sexueller Gewalt und emotionaler Manipulation. Aber vor allem ist es ein sicherer Raum, um zu reden, zu heilen und uns, die Überlebenden, zu stärken“, so Paula Knüpling und Maria Prados im Regiekommentar.
Film und Theater als Safer Space statt als einer der wohl häufigsten Orte von Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt. Dass diese Utopie Wirklichkeit werden kann, dazu tragen Paula Knüpling und Marina Prados nun selbst bei - mit ihrer eigenen Produktionsfirma, Ladybitches Productions, für queere, feministische und vielfältige Filme aus Gen-Z-Perspektive, die auf einer respektvollen Zusammenarbeit basieren. Keine Star-Regisseure mit zweifelhaftem Ruf, keine Übergriffe, keine male cishet Egos mit übersteigertem Geltungsdrang, kein Inkaufnehmen von Traumata, kein "so ist es halt in dieser Branche". Klingt gut? Find ich auch.
Kurzinterview mit Marina und Paula
Ich freue mich ganz besonders, dass Marina und Paula sich die Zeit genommen haben mir ein paar Fragen zu beantworten.
Wie kam der Titel "Ladybitch" zustande?
Eine große Inspiration was der Song „I’m not a girl, Not yet a Woman“ von Britney Spears und der Idee der Selbstermächtigung und des Erwachsenwerdens. Außerdem war es sehr passend für das Stück, das wir im Film behandeln: die Rolle der Lulu aus den Buchdramen von Frank Wedekind, ein junges Mädchen, das wie eine erwachsene Frau behandelt und sexualisiert wird. Dem wollten wir die Idee entgegensetzten das zu nehmen, was dich angeblich schwach macht, und es in etwas umzuwandeln, das dich stärker macht. Das „Bitch sein“ als Anspruch und Ziel. Ladybitch ist also der Charakter oder auch die Rüstung, die Ela sich zu konstruieren versucht, um sich zu stärken und von den männlichen Zuschreibungen zu befreien.
In eurem Abspann wurde das Berlin Strippers Collective genannt und, wenn ich es richtig recherchiert habe, ist eine der Schauspieler*innen selbst Teil des Kollektivs. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und was bedeutet es für euch Sex Work und das Thema sexualisierte Gewalt bzw. Grenzüberschreitungen zusammenzubringen?
Das hast du aber gut recherchiert. Ja, es war uns sehr wichtig, Menschen aus der Sexarbeit an dem Projekt zu beteiligen. Zum einen, um die fiktiven Elemente zu reflektieren: Franz Kramer erzählt die Geschichte einer Sexarbeiterin und denkt, er kann diese Geschichte erzählen, obwohl es eigentlich nicht seine Aufgabe ist, darüber zu sprechen. In seiner Produktion hat weder eine Frau noch eine Sexarbeiterin den Raum, die Stimme zu erheben, das sollte dann in unserer Arbeit natürlich nicht so sein. Für uns war es wichtig, dass die Menschen aus diesem Kollektiv vertreten sind und ihre Meinung sagen können.
Außerdem sind wir große Fans von der Arbeit und den Ideen des Berlin Stripper Collectives. Die Gruppe setzt sich wahnsinnig stark für ermächtigte Sexualität, Selbstliebe, feministische Erotik und starke Queers ein. Das wollten wir unbedingt feiern und auch für den Charakter Ela in der Geschichte haben. Auch Elas Freundin Alex ist Sexarbeiterin und war für uns ein wichtiger Teil in Elas Entwicklung, sich ihren Ladybitch-Charakter zu konstruieren und ihre Stimme zu finden. Die selbstbestimmte sexuelle Ermächtigung mit sexuellen Grenzüberschreitungen zu kontrastieren , war für uns ein essenzieller Teil der Films und der Versuch darzustellen, dass das Problem nicht Sexualität ist, sondern die toxischen Arbeitsatmosphären.
Für mich persönlich war es überraschend, dass Ela nach dem (zum Glück verhinderten) Übergriff durch Franz Kramer in der Bar noch weiterzieht statt nach Hause zu gehen - und dann auch noch in einen Stripclub. Aber auch wenn es vielleicht erst befremdlich wirkt, finde ich diese Wendung im Rückblick mega empowernd weil es direkt aussagt: das Problem ist nicht die Sexualität selbst, sondern die Grenzüberschreitung und Fremdbestimmung durch den Täter. Vielleicht möchtet ihr auch eure Gedanken dazu noch kurz zusammenfassen?
Wir wollten unsere Realität dieser Ereignisse zeigen. Missbrauch passiert und man bricht nicht zusammen. Man macht weiter, man verdrängt das schlechte Gefühl und tut so, als sei alles in Ordnung, um den Schmerz zu verdrängen und sich nicht mit dem Trauma auseinandersetzen zu müssen. So scheint es einfacher zu sein, und man redet sich ein, dass es nicht so schlimm war. Du gehst auf eine Party und spülst den Schmerz mit Bier runter. Und von außen sieht alles weiter lustig aus.
Außerdem sagst du es ja schon ganz richtig: Das Problem ist nicht die Sexualität an sich. Ein nackter Körper oder Intimität, all diese Dinge sind gut und schön und können in einem sicheren Raum durchaus geschehen. Ela geht zu ihren Freund:innen, zu ihrer Liebhaberin, fühlt sich sicher, schön und stark. Das Problem ist das WIE: wie Kramer sie unter Druck setzt, sie klein hält, sie dazu bringt, Dinge zu tun, ohne Rücksprache zu halten, die es Ela unmöglich machen, sich wohl und sicher zu fühlen oder eine gute Schauspielerin zu sein. In einer toxischen Umgebung kann man sich nicht entwickeln. Wisst ihr schon wie es mit Ladybitch weitergeht? Kann man den Film in nächster Zeit vielleicht irgendwo sehen?
Das ist eine tolle Frage, auf die es gerade noch keine Antwort gibt. Wir arbeiten fleißig daran, den Film noch auf ein paar Festivals in Deutschland und auch im Rest der Welt zu zeigen. Vielleicht findet sich noch ein Verleih, der Lust hast, diesen wichtigen Film in einer kleinen Kinotour auszuwerten. Also konkrete Daten gibt es leider noch nicht, aber wir sind guter Dinge, dass da noch was kommt! Wie es zu dem Film kam, habt ihr im Filmgespräch bei der Premiere ja schon erzählt - also dass es darin um eure eigenen Erfahrungen geht. Mich würde noch interessieren wie ihr selbst den Schritt geschafft habt aus der Situation der Betroffenen herauszutreten, quasi dieses System zu verlassen, und sogar eine eigene Produktionsfirma zu gründen. Hattet ihr schon länger vor vom Schauspiel zur Regie zu wechseln bzw. euch da mit einer eigenen Firma selbstständig zu machen und wie sind eure Zukunftspläne?
Der Film war eigentlich schon ein großer Schritte für uns. Mit dem Lockdown 2020 hatten wir viel Zeit, uns mit einigen Themen aus unserer Vergangenheit näher auseinanderzusetzten. Das Schaffen dieser Distanz erlaubte es uns, aus einer neuen Perspektive auf das Thema zu blicken. Wir haben das Buch geschrieben und viele Szenen zum Beispiel selbst gespielt. Dass wir die Möglichkeit hatten, Szenen abzubrechen, zu verändern und zu steuern, war ein sehr ermächtigendes Gefühl. In unserer Tätigkeit als Schauspielerinnen haben wir uns oft passiv und stimmlos gefühlt und für uns war das Mittel eben die Regie und das Schreiben eigener Geschichten. Das haben wir seit 2018 in der Theaterwelt auch schon gemacht. Als wir dann die Chance bekamen, aufgrund von Corona-Einschränkungen unsere Theatergelder für ein Filmprojekt zu nutzen, wollten wir sofort diese Geschichte erzählen.
Für die Zukunft gibt es auch schon Pläne. Wir schreiben gerade an einem neuen Buch. Ein queeres coming of age Spielfilmprojekt über Schönheitsideale und Selbstliebe. Wir freuen uns schon sehr auf alles, was da kommt!
Wir uns auch. Vielen Dank für eure Antworten und ganz viel Erfolg für "Ladybitch" und künftige Projekte.
Zum Film
Spielfilm | 97 Minuten
Premiere: Deutschland 2022
Regie: Paula Knüpling & Marina Prados
Buch: Paula Knüpling & Marina Prados
Cast: Celine Meral, Christoph Gawenda, Benny Claessens, Asad Schwarz, Luisa-Céline Gaffron
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