Tanja
Erfahrungen eines schönen Mädchens von Alix Kates Shulman
Aktualisiert: 11. Sept. 2021
"Bin ich schön (genug)?" Diese Frage treibt Protagonistin Sasha in Alix Kates Shulmans Roman durch ihr Leben - von früher Schulzeit an bis hinein in ihre Ehen und das Mutterdasein. Am Anfang mag diese Oberflächlichkeit viele Leser*innen, die sich mit dem Hinterfragen von Schönheitsnormen oder generell feministischen Themen auseinandersetzen, abschrecken. So wäre es auch mir gegangen, hätte ich nicht (dank Info des Arche Verlags) gewusst, wer Alix Kates Shulman ist.
Daher starte ich heute mal mit der Autorinnen-Info. Tatsächlich konnte ich mit dem Name Alix Kates Shulman erst mal gar nichts anfangen, obwohl sie eine sehr berühmte Feministin ist. Sie war im Second Wave Feminism und der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung in den USA aktiv, nahm an Gruppentreffen im privaten, politischen und künstlerischen Bereich teil und war an den Planungen der ersten Women Liberation Demonstrations beteiligt. Im Feminismus der Zweiten Welle standen Themen wie Schönheitsideale, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen, Abtreibungen und Fragen der Ehe und Mutterschaft im Fokus - was sich übrigens deutlich im Roman spiegelt. 1968 nahm Shulman an den in den USA sehr prominenten Protesten gegen die Miss America Wahlen teil - die übrigens (fälschlicherweise) mit den sagenumwobenen BH-Verbrennungen in Verbindung gebracht werden. Während einer dieser Demonstrationen kam ihr die Idee zum Buch "Memoirs of an Ex-Prom Queen", das sich millionenfach verkaufte und zu einem der ersten bekannten Romane aus den Reihen des feministischen Aktivismus zählt. Nachdem das Buch 2019 in den USA neu aufgelegt wurde, erschien es im August 2021 nun endlich auch auf Deutsch - übersetzt von Sabine Kray und herausgegeben vom Arche Verlag .
Eine kurze Anmerkung unsererseits, bevor wir zum Inhalt des Buches übergehen:
Viele Second Wave Feminist*innen haben sich aus Sicht jüngerer Generationen ins Abseits befördert, indem sie ihre Sichtweisen und Anliegen nicht an die Entwicklungen der Bewegung angepasst haben und marginalisierte Personen - vor allem trans* und nicht-binäre Menschen sowie Sexarbeiter*innen - diskriminieren und aus den eigenen Kämpfen für Freiheit und Gleichberechtigung ausschließen. Gerade prominente Feministinnen der 70er wie Alice Schwarzer fallen nicht selten zusätzlich durch rassistische Äußerungen auf. Wir haben daher versucht herauszufinden, wie es mit Blick auf Intersektionalität ¹ um Alix Kates Shulman steht, da unser Verständnis von Feminismus die gesamte LGBTQIA+-Community ² sowie den Kampf gegen Rassismus und Solidarität mit Sexworker*innen einschließt. Wir konnten keine TERF-Vorwürfe ³ finden. 2020 nahm Shulman mit verschiedenen aktivistischen Gruppen an den Black Lives Matter Demonstrationen teil. Sie war zudem bereits in den 60ern Teil des Congress for Racial Equality (CORE). Sollten dir Äußerungen oder Texte von Shulman bekannt sein, die sie aus Sicht eines intersektionalen Feminismus disqualifizieren, kannst du uns gerne darüber informieren. Auf den ersten Blick scheint es uns aber so, als sei Shulman (die mit knapp 90 Jahren noch immer aktivistisch aktiv ist) eine Person, deren Arbeit wir guten Gewissens rezensieren können.
Worum geht's?
Erfahrungen eines schönen Mädchens ist genau genommen eine Coming of Age Story, nur eben aus den späten 50er und 60er Jahren. Wie das US-amerikanische Frauenbild damals aussah, kann ganz schnell ergoogelt werden, wenn man es nicht ohnehin schon aus alten Werbungen oder Filmen kennt: Happy Family im Sinne von Mutter, Vater, Kind(ern), perfekte Hausfrau mit Schürze am Herd und als die schöne Begleitung in Gesellschaft - also traditionelle Rollenstereotype at its best. In diesem Kontext - und dem Hintergrundwissen über den feministischen Ursprung des Romans - ist der Fokus auf weibliche Schönheit und weitere Ideale wie Jugend, Heiratswille und Kinderwunsch als Hauptziel der eigenen Existenz sehr spannend. Denn Sasha, die junge Protagonistin aus gutem Elternhaus, hat durchaus mehr zu bieten als ihren in der Highschool gewonnenen Titel der Schönheitskönigin auf dem Abschlussball. Sie ist eine kluge junge Frau, die schon früh Rollenstereotype hinterfragt, sich in bestimmten Punkten (z.B. sexuelle Enthaltsamkeit) gegen sie auflehnt, sich aber doch nicht ganz lossagen kann von den gesellschaftlichen Normen dieser Zeit. Schon mit Anfang zwanzig sorgt sie sich darum zu alt zu werden, um auf dem Heiratsmarkt noch attraktiv zu sein.
Gleichzeitig treibt sie der Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit. Sie verlässt zum Beispiel in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihr Elternhaus, um in einem Hotel in einem anderen Bundesstaat zu kellnern. Später, in ihrer unglücklichen Ehe, flieht sie ins Ausland, nach Spanien und Italien, um zu sehen wie sie alleine zurechtkommt. Wie ihr das gelingt, darfst du gerne selbst nachlesen. Sasha ist zudem äußerst klug, wissbegierig und scharfsinnig. Sie studiert Philosophie, entwickelt eine wahre Leidenschaft für die großen Denker (leider ist das so richtig gegendert; an der Stelle eine kleine Querverbindung zum Buch "Philosophinnen") und das Erkennen von komplexen Zusammenhängen der Weltgeschichte. Zeitgleich lässt sie sich an der Universität auf eine Affäre mit ihrem verheirateten und deutlich älteren Professor ein. Diese Gegensätze ziehen sich durch die gesamte Handlung und sorgen dafür, dass der Plot nicht vorhersehbar, nicht utopisch rebellisch und somit durchaus realistisch bleibt.

50 Jahre her und doch erschreckend aktuell
TW für die nächsten Abschnitte: Abtreibung, Catcalling, sexualisierte Gewalt, rassistische Begriffe
Nun könnte man denken: "Puh, ja, die 50er! Lang ist's her." und natürlich haben wir aus feministischer Sicht viele Fortschritte gemacht. Dennoch gibt es einige Stellen im Buch, die heute kein bisschen an Relevanz verloren haben. Gerade mit Blick auf die Entwicklungen in den USA ist auch das Thema Abtreibung wieder sehr aktuell - ein Anliegen der Second Wave Feminist*innen, bei dem leider bis heute nur wenig erreicht wurde und manche Staaten sich gerade wieder rückwärts bewegen. (Gute Nachrichten gab es diese Woche aus Mexiko, auch das darf neben all den Hiobsbotschaften mal erwähnt werden.) Auch bekannt vorkommen dürften vielen weiblich gelesenen Personen die Sexualisierung im Alltag und die Grenzüberschreitungen beim Dating, was im Roman von ungewollten "Anmachen" (heute würden wir wohl von Catcalling sprechen) bis hin zu ganz klar sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung reicht.
In einem Interview mit Vanity Fair 2019 sagte Shulman angesprochen auf dieses Thema:
“'Sexual harassment' was not coined as a term until 1975. And this book was written a whole lot earlier than that. [1972] But my working title for the book was “Aspects of Rape”! I didn’t tell anybody that title except the people in my women’s group, because this was meant to be a comic novel and rape is not comic. But that was my guiding principle. It’s not an autobiography, but if there was anything in my life that I could use, I was not in any way hesitant to use it. And much of what you’re talking about, it happened to me."
Ich würde den Roman übrigens nicht als Komödie bezeichnen wollen - auch wenn zum Beispiel der Bezug auf damalige Ratgeberliteratur, die Frauen erklärte, dass sich ihr Charakter ab einem Alter von 30 nicht mehr weiterentwickeln wird, aus heutiger Sicht durchaus etwas Komisches mit sich bringt. In Shulmans Vorwort spricht sie davon, dass die ersten Rezensionen das Buch als "schockierend" und "traumatisierend" beschrieben, während Frauen sich darin wiederfanden und "Feministinnen [bei der Lektüre laut auflachten], angehende Feministinnen weinten" (S. 11). Die Komik liegt also vermutlich in den verschiedenen Welten, die beim Lesen aufeinanderprallen: die der Privilegierten, die diese Themen bisher kaum tangiert hatten, und die der Betroffenen, die das Gefühl hatten Shulman schreibe ihnen aus der Seele.
Triggerwarnungen und Kritik
Leider wurden dem Buch keine Triggerwarnungen vorangestellt, was definitiv nötig gewesen wäre (für die Themen, die ich oben bereits genannt habe, aber auch für Fehlgeburten und Bodyshaming). Auch muss ich an einigen Stellen Kritik an der Sprache üben: Der Text enthält rassistische Begriffe, die ich heute nicht mehr sehen will - auch nicht in der Übersetzung eines Klassikers und schon gar nicht unkommentiert. Es werden z.B. diskriminierende Begriffe für Native Americans (S. 173) und Sinti*ze und Rom*nja (S. 55) verwendet. Wir hätten uns hierzu zumindest eine Anmerkung gewünscht, die auf die zeitliche Distanz der Erstausgabe zur heutigen Wiederauflage und Übersetzung hinweist und eine Einordnung vornimmt.
Unser Fazit
Wer Spaß daran hat Klassiker wieder aufleben zu lassen, Unterschiede und Parallelen zwischen historischen und heutigen Kontexten zu betrachten und sich gerne in Romanen verliert, wird mit "Erfahrungen eines schönen Mädchens" eine sehr gute Zeit verbringen. Die rund 350 Seiten lassen sich schnell durchlesen, die Zeitsprünge in der Erzählung (Sashas Leben im "jetzt" der erzählten Zeit wechselt immer wieder ab mit Rückblicken in ihre Kindheit, ihre Reisen, ihre Studienzeit) lassen die Geschichte sehr kurzweilig erscheinen, die Protagonistin wird mit jedem neuen Einblick in ihr Leben facettenreicher und entwickelt sich von einer nur um ihre Schönheit bedachten Jugendlichen zu einer interessanten Frau und einem gut durchdachten, mehrschichtigen Charakter, mit dem man beim Lesen mitfühlen kann. Abgesehen von den Kritikpunkten, die ich im vorherigen Abschnitt erläutert habe, halte ich den Roman für empfehlenswert und freue mich, dass ich die Neuerscheinung des Arche Verlags lesen durfte.
Anmerkung: "Erfahrungen eines schönen Mädchens" wurde unserem Buchclub-Mitglied Tanja als kostenfreies Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Dies hat ihre Meinung über den Roman nicht beeinflusst.
¹ Was Intersektionalität bedeutet, haben wir in einem Instagram-Posting zusammengefasst.
² Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, bisexuelle Menschen, trans* Personen, Queers, intergeschlechtliche Menschen und Asexuelle bzw. Aromantische
³ TERF steht für "Trans-exclusive radical feminists", also Personen, die sich als Feminist*innen bezeichnen, trans* Personen aber ausschließen. Eine ausführliche Erklärung dazu (und auch zu SWERF, Sexworker-exclusive radical feminists) hat Hengameh Yaghoobifarah in einem Beitrag für das Missy Magazine geschrieben: Hä? Was heißt denn ... ?