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  • AutorenbildLuca

Entstellt von Amanda Leduc

“They were really proud to cast a latino actress as snow white. But you’re still telling the story of snow white and the seven dwarfs. Take a step back and look at what you’re doing there. It makes no sense to me. You can be really progressive in one way but you’re still making that fucking backward story of seven dwarfs living in a cave. What the fuck are you doing.

Have I done nothing to advance the cause?

I guess I’m not loud enough.”[1]


Das sind die Gedanken von Peter Dinklage zur kommenden Disney Realverfilmung von Schneewittchen und die sieben Zwerge. Im Podcast WTF redet der kleinwüchsige Schauspieler mit dem Host Marc Maron über seine Karriere. Peter, der vor allem durch die Rolle des Tyrion Lennister in Game of Thrones bekannt ist, kritisiert Disney dabei für ihre Zweischneidigkeit. Auf der einen Seite rühmen sie sich dafür eine Latina als Schneewittchen zu casten, auf der anderen Seite reicht ihr Wille Diversität zu verkörpern nicht aus, die Geschichte über die sieben Zwerge (in Amerika ist es Gang und Gäbe Kleinwüchsige „dwarfs“, also Zwerge, zu nennen) genug in Hinblick auf die Darstellung von Behinderung zu reflektieren.


Diese Äußerung ist es, die ich im Hinterkopf habe, als ich „Entstellt – Über Märchen Behinderung und Teilhabe“ anfange. Das ist meine einzige aktuelle Referenz, die ich zum Thema habe. Vorher habe ich mich noch nicht weiter mit Darstellung von Behinderung und Ableismus auseinandergesetzt und so geht es auch den anderen Mitgliedern des Buchclubs. Ein lehrhafter Lesemonat steht uns allen also bevor.


Zum Buch


Amanda Leduc, die Autorin, verhandelt in ihrem Buch neben der Darstellung von Behinderung in klassischen Märchen, auch moderne Adaptionen, so wie die von Disney aber auch Marvel und sogar Game of Thrones. Während man liest, gibt Amanda immer wieder private Einblicke in ihre persönliche Krankenakte und verarbeitet Erfahrungen, die sie als Person mit Zerebralparese macht. Zentral ist hierbei die Erzählung über ihre Kindheit und Jugend, die für sie, so wie für uns alle, eine prägende Zeit darstellt. Dabei erklärt sie den medizinischen Fachjargon, sodass alle lesenden Personen verstehen können, was ihre Ärzte über die Jahre zu ihrer Behinderung geschrieben haben. Sie benutzt identity-first language, sofern es von den genannten Personen nicht anders gewünscht ist.


Auch wenn die Autorin sich im Buch auf die konzentriert, schafft sie es dennoch grundlegendes Wissen zu vermitteln, sodass bei uns keine Fragen offenblieben, obwohl wir vollkommene Anfängerinnen auf dem Gebiet sind. So geht sie zum Beispiel auf den sensiblen Umgang mit Sprache ein (Formulierungen wie „an den Rollstuhl gefesselt sein“ zum Beispiel), spricht über das Konzept von Inspirationsporno und erläutert den Unterschied zwischen medizinischem und sozialem Modell.


Amanda erklärt zu Beginn das Prinzip auf dem Märchen basieren. Am Anfang der Geschichte besteht ein Mangel, der dann im Laufe der Erzählung überwunden werden muss, bis er zum Schluss behoben ist. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Bei diesen Mängeln handelt es sich nicht selten um eine Behinderung. Sei diese körperlicher oder geistiger Art. Sie nennt das Märchen das Mädchen ohne Hände (von den Gebrüdern Grimm gesammelt) in dem eine Müllerstochter ihre Hände verliert, weil ihr Vater einen Deal mit dem Teufel eingegangen ist. Dann begibt sich das Mädchen auf die Reise, wird über Umwege Königin und am Ende der Geschichte wachsen ihr die Hände letztendlich wieder nach. Der Mangel, ihrer nicht vorhandenen Hände ist also am Ende beglichen.

Und hier sind wir am springenden Punkt, den Amanda Leduc großartig herausarbeitet. Warum sind ihre nicht vorhandenen Hände am Ende immer noch ein Mangel, wenn sie doch schon Königin ist, einen liebenden Ehemann und sogar ein Kind hat (alles was frau sich im Märchen erhoffen darf)? Ihr Leben scheint doch so schon ziemlich geil zu sein? Weil Behinderung in unserer Gesellschaft eben immer als Mangel wahrgenommen wird. Das behinderte Menschen MIT ihrer Behinderung ein erfülltes Leben haben und sich nicht danach sehnen, diese loszuwerden, ist ein Gedanke, der schwer zu verstehen ist, wenn man mit solchen Erzählungen groß wird und der sicherlich auch an das medizinische Modell geknüpft ist. Ein Gedanke, der abgewandelt leider auch in der dick_fetten Community Platz findet. Hier gibt es den Glaubenssatz „Wenn ich dann abgenommen habe..“, der suggeriert, dass ein glückliches Leben nur mit einem Normkörper zu erreichen ist.



Die Darstellung von Behinderung im Märchen


Märchen arbeiten gerne mit Gegensätzen. Arm - reich, dumm – klug, gut – böse. „Das Böse“ mit Merkmalen von Behinderung darzustellen ist dabei Gang und Gäbe. Man denke an den Disney Klassiker König der Löwen und seinen Bösewicht Scar, der sogar nach der Narbe benannt ist, die sein Gesicht zeichnet. „Ich habe mich darin wiedergefunden, aber immer nur als der*die Böse.“ (S.102) so erzählt es Irene Colthurst im Buch, die wie die Autorin eine Zerebralparese hat. Die Frage danach, was es mit einem Menschen macht, wenn die einzige Repräsentation mit dem buchstäblichen Bösen verbunden ist, wirft Amanda im Buch auch auf.

Eine behinderte Person behandelt Leduc, die nicht der Bösewicht, sondern sogar der Protagonist der Disney Geschichte ist. Der Glöckner von Notre Dame. Er wird zum Schluss auch nicht wundersamerweise von seinem Buckel „geheilt“, sondern bleibt so, wie er ist. Doch gibt es für den Glöckner zum Schluss keine Hochzeit und auch keine große Liebe. Für ihn gibt es lediglich Freundschaft. Was natürlich nichts Schlechtes ist, aber so ausgelegt werden kann, als dass behinderte Menschen nicht liebenswürdig sind. Und das wiederum ist ein grausames Narrativ.


Einem Märchen widmet sich die Autorin besonders, da es ihr Lieblingsmärchen als Kind war: Arielle. Amanda geht dabei sowohl auf das Original von Hans Christian Andersen ein, als auch auf die Disney Adaption.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es mindestens so interessant war die Verknüpfung von Behinderung und Märchen zu erlesen, wie es spannend war die Unterschiede zwischen den Originalen und den disneyfizierten (wie es Amanda im Buch so schön nennt) Märchen vor Augen geführt zu bekommen.

So nämlich auch bei Arielle. Bei Disney ist zum Schluss die Antagonistin tot, Arielle hat nicht nur ihre Stimme wieder, sondern kann mit Hilfe von ihrem Vater mit ihrem Prinz Erik und ihren zwei Beinen glücklich bis ans Ende ihrer Tage Leben. Andersens die kleine Meerjungfrau sieht da etwas düsterer aus. Arielle schafft es nicht den Prinzen davon zu überzeugen, dass sie es war, die ihn gerettet hat und muss dann dabei zusehen, wie Erik eine andere heiratet. Ihre Schwestern arrangieren ein Abkommen mit der Meereshexe. Um ihren Meerjungfrauenschwanz wieder zu bekommen, muss sie den Prinzen töten. Arielle bringt diese Grausamkeit nicht über sich und stürzt sich letztendlich vom Hochzeitsschiff ins Meer um fortan als Geist weiter zu existieren.

Spannend dabei ist die Tatsache, dass auch hier das Happy End daran geknüpft zu sein scheint, nicht behindert zu sein. Die kleine Meerjungfrau, die übrigens in der Erzählung von Erik „mein stummes kleines Findelkind“ genannt wird (S.131) und auf einem Kissen vor seiner Schlafzimmertür schlafen darf (?!), wird in Andersens Märchen auf Grund ihrer Behinderung infantilisiert.


Eine Lese-Erfahrung, die wir im Buchclub geteilt haben, ist die, dass wir die Figur Arielle, bevor wir Entstellt gelesen haben nie als behindert wahrgenommen haben. Dabei hat sie mit dem Verlust ihrer Stimme eine Behinderung, von der es ein reales Pendant gibt, aber auch der Verlust ihres Meerjungfrauenschwanzes und das unsichere Bewegen auf ihren neuen Beinen kann als Behinderung gelesen werden. Amandas Buch hat somit unser Blickfeld erweitert. Es war für uns als nicht behinderte Personen Augen öffnend.


Fazit


Ich würde das Buch gerne jeder Person ans Herz legen. Es liest sich durch die Erklärungen und den lockeren Schreibstil der Autorin wirklich leicht. Es ist unfassbar interessant und aufschlussreich und es deckt eine riesige Bandbreite von dem ab, was als Märchen kategorisiert werden könnte. Nicht nur lernt man was zu den klassischen Geschichten von den Gebrüdern Grimm und Andersen, sondern auch über Disney als Konzern, über Merkmale von Märchen und zu ganz modernen märchenhaften Verfilmungen wie Marvel und Game of Thrones. Als lesende Person muss man sich nur dessen bewusst sein, dass es kein Grundwerk zu Ableismus ist, da diese starke Konzentration auf Märchen vorherrscht.


Disney hat übrigens Stellung bezogen zu der Aussage von Peter Dinklage. Sie wären in Gesprächen mit Kleinwüchsigen-Verbänden, die sie bei der Produktion des Films beraten würden. Also wer weiß, vielleicht war er ja doch laut genug.

[1] WTF Podcast 24.01.2022, Marc Maron und Peter Dinklage, Folge 1299, 56 min

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