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Das Archiv der Träume von Carmen Maria Machado

Ich habe lange gebraucht um einen Einstieg in diese Rezension zu finden. Denn es ist nicht ganz einfach "Das Archiv der Träume" inhaltlich zusammenzufassen. Es ist auch nicht einfach dieses Buch einem Genre zuzuordnen, es als Roman oder Autobiographie oder Memoire zu betiteln. Also fange ich da an, wo wir alle beginnen, wenn wir vor einem neuen Buch stehen: Es ist das Cover bzw. der Titel, den wir als erstes wahrnehmen. Und um diesen Titel, das Archiv der Träume, zu erklären, leihe ich mir die Worte der Autorin aus. Denn besser kann ich es nicht beschreiben.


Worum geht's?


Carmen Maria Machado schreibt im Vorwort:


"Der Begriff Archiv, erklärt uns Jacques Derrida, kommt vom altgriechischen arkheion, 'das Haus des Herrschenden'. Als mir diese Erklärung zum ersten Mal begegnete, war ich ganz begeistert, dass der Begriff Haus darin vorkommt (als große Freundin von Spukhausgeschichten habe ich eine Schwäche für Architekturmetaphern), aber den eigentlichen Aufschluss gibt das Element der Macht, der Autorität. Die Entscheidung darüber, was ins Archiv aufgenommen und was ausgelassen wird, ist ein politischer Akt, den die Archivarin und der politische Kontext bestimmen, in dem sie lebt." (S. 14)

Und schon haben wir uns dem englischen Originaltitel "In the Dream House" angenähert. Beide Titel sind treffend, beide beschreiben einen elementaren Teil dieses Buches. Denn das Dream House (und damit auch das Haus, das in der Definition des Begriffs "Archiv" steckt) ist namensgebend für jedes der unzähligen Kapitel dieses Buches. Es ist der Ort des Geschehens, mit dem die Autorin alles verbindet und als solcher wird er aus den verschiedensten Perspektiven betrachtet: Das Traumhaus als American Gothic, das Traumhaus als Lügenmärchen, das Traumhaus als Spionagethriller, das Traumhaus als Monsterfilm, das Traumhaus als Bühnenbild, das Traumhaus als Erotikliteratur. Für jedes Kapitel greift Carmen Maria Machado auf ein eigenes Genre zurück, passt die Erzählung, ihre Art zu schreiben an.


Auf Nachfrage des Tropen Verlags, der das Buch auf deutsch verlegt, erklärt Machado in einem Kurzinterview, sie habe sehr lange versucht dieses Buch zu schreiben, ohne dass es ihr gelungen sei. Erst als sie an der Highschool einen Literaturkurs für Jugendliche gab, in dem sie Tag für Tag über Genre und ihre Eigenheiten sprach, kam ihr die Idee, durch diesen Ansatz vielleicht endlich das in Worte fassen zu können, was ihr das Schreiben so schwer machte.


Und worüber schreibt sie nun? Das Haus ist eigentlich nur eine Kulisse, denn obwohl es in jeder Überschrift und in einigen der Kapitel vorkommt, geht es eigentlich um die Geschehnisse innerhalb und auch außerhalb dieses Hauses. Es geht um Dinge, die viel zu oft ungesagt bleiben und wenn diejenigen, die nicht mehr schweigen wollen, über sie sprechen, dann wird ihnen häufig nicht zugehört oder nicht geglaubt. Das "Haus der Herrschenden" steht nicht allen offen. Die Archive schweigen je nachdem wonach man sie fragt. Das will Machado ändern. Ihre eigene Geschichte soll gehört werden, geglaubt werden und festgehalten werden. Sie soll einsehbar sein in unseren Archiven, soll von anderen gefunden werden können. Sie schreibt:


"Ich trage ins Archiv ein, dass häusliche Gewalt zwischen Partner*innen mit der gleichen Geschlechtsidentität möglich und nicht unüblich ist und dass diese in etwa wie folgt aussehen kann." (S. 17)

Mit diesen Worten wird das Vorwort beendet und die Erzählung beginnt.


TW: psychische Gewalt


Im Dezember 2020 wurden wir via Instagram auf ein Buch aufmerksam, das quasi einen Leitfaden dazu enthielt wie man eine toxische Beziehung initiiert, sie aufbaut, sein "Opfer" gefügig macht, Macht ausübt, Unsicherheiten schürt, Abhängigkeitsverhältnisse kreiert, Angst verbreitet. Wir haben eine Protestaktion gegen das Verlegen dieses Buches ins Leben gerufen. Und obwohl wir damals noch ein ganz kleiner Account und überhaupt erst wenige Wochen bei Instagram präsent waren, haben sich unglaublich viele Menschen unserem Protest angeschlossen. Große Accounts haben unseren Aufruf, die beiden deutschen Verlage zu kontaktieren, geteilt, sich in Stories zu Wort gemeldet, ihre Follower*innen informiert und an sie appelliert, sich gegen toxische Beziehungen, gegen psychischen Missbrauch stark zu machen. Denn seine Folgen kann man zwar nicht sehen, keine blauen Flecken, keine Narben auf der Haut, doch seine Folgen sind weitreichend und das Leiden der Betroffenen enorm. Die beiden Verlage gaben uns recht und nahmen nach einer erneuten Prüfung des Inhalts das Buch aus ihrem Programm.


Als ich Das Archiv der Träume gelesen habe, habe ich mich auch an diese Protestaktion zurückerinnert. Die Beschreibungen der Frau aus dem Traumhaus, der toxischen Partnerin, stimmten sehr genau mit dem überein, was in der Anleitung geschrieben stand. Im Traumhaus herrscht ein Klima der Angst, der Unberechenbarkeit, der Vorsicht, des sich Rechtfertigens, Beweisens, des den eigenen Verstand Hinterfragens.


Toxische Beziehungen im Spiegel der Geschlechtsidentität


Was wir im Rahmen unserer Protestaktion zu Beginn noch nicht vor Augen hatten, sind die Geschlechterfragen, die mit dem Thema toxischer Beziehungen scheinbar eng verflochten sind. Damals wurde uns vorgeworfen wir würden nur Frauen als Opfer unterstützen. Dass auch Männer häusliche Gewalt (psychisch wie physisch) erleiden, sei noch immer ein Tabuthema. Letzterem wollen wir nicht widersprechen. Was mir jedoch mit der Lektüre des Archivs der Träume zum ersten Mal überhaupt bewusst wurde, ist das Dilemma des Schweigens und Sprechens über Gewalt in queeren Beziehungen.


Schweigen wir darüber, lassen wir queere Menschen, die Gewalt in ihren Beziehungen erleben, mit ihren Erfahrungen alleine. Wir stärken eine Utopie, die in der Realität Risse hat, in der nicht immer überall Regenbogen ist. Sprechen wir darüber, reproduzieren wir vielleicht Vorurteile über gewalttätige Butches oder die von Homophoben deklarierte "Abartigkeit" gleichgeschlechtlicher Beziehungen und schaden im schlimmsten Falle der Community. Carmen Maria Machado hat beschlossen sich auf die Suche zu machen, Archive zu wälzen, herauszufinden was zu dem Thema bereits geschrieben wurde und sich diese Grundlage zunutze zu machen ihre eigene Geschichte zu schreiben.


Tiefe Einblicke


Dieses Buch ist ergreifend und beängstigend, es zieht uns emotional in seinen Bann, wenn wir mit Machado mitfühlen, für sie hoffen, uns im Takt ihrer Geschichte an- und entspannen, die Luft anhalten und erleichtert ausatmen, wenn es vorbei ist. Sie schafft es eine Balance zwischen den Personen zu halten. Als Leser*innen verstehen wir anhand ausgewählter Szenen aus der Beziehung woher die Angst rührt, was zwischen den beiden Frauen vorfällt, was die Frau aus dem Traumhaus so gefährlich macht. Durch die zeitweise räumliche Trennung der beiden (sie führen eine Fernbeziehung) und die Zeitsprünge in der Erzählung steht aber immer wieder Machado im Fokus, als Opfer zwar, ja, aber auch als eigenständige Person, als clevere Frau, die sich selbst und die Strukturen, in denen sie lebt, die Situation, in der sie sich befindet, kritisch hinterfragt.


Das Archiv der Träume ist außerdem ein literarisch äußerst beeindruckendes Werk, das alle Spielarten des Erzählens ausschöpft, deren Vielseitigkeit beweist. Und es ist zudem ein Pool an Erfahrungen queerer Personen, die Gewalt erfahren oder dazu geforscht haben. Die Querverweise erlauben uns einen Blick in die Entstehungsgeschichte des Archivs der Träume, wenn wir Machados Recherchen und ihren Schreibprozess verfolgen, mitlesen dürfen, wie sie das Erlebte aufarbeitet, abzuschließen versucht.


Eine mutige Enthüllungsgeschichte, eine schriftstellerische Glanzleistung, die im Englischen zurecht den Rathbones Folio Preis für die literarisch beste Neuerscheinung und den Lambda Literary Award for LGBTQ Nonfiction erhielt. Glasklare Leseempfehlung.



* Unser Buchclubmitglied Tanja hat das Archiv der Träume als kostenloses Rezensionsexemplar erhalten. Ihre Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst.

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