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  • AutorenbildTanja

Body Politics von Melodie Michelberger

"Dieses Buch spricht mir aus der Seele", dachte ich beim Lesen. Es erzählt von den Gedanken bestimmte Kleidungsstücke nicht tragen zu können, vom Bewerten von Lebensmitteln und Mahlzeiten in Zahlen und Farbkategorien, von Sport als Mittel zum Zweck und nicht zuletzt von einer fehlerhaften Selbstwahrnehmung, die erst im Rückblick (zum Beispiel durch das Anschauen alter Fotos) realisiert wird.


Doch das Buch enthält nicht nur eine "Biografie des Körpers" der Autorin, sondern geht darüber hinaus: Spricht über und mit Aktivistinnen, behandelt Strukturen, den Zusammenhang zwischen der Diskriminierung großer Körper und Kolonialismus bzw. Rassismus. Und dann, plötzlich, wurde mir klar, dass es in diesem Buch überhaupt nicht um mich geht. Denn ich habe keinen dick_fetten Körper. Das war der Moment, in dem ich mir meiner Privilegien bewusst wurde, des "Thin Privilege", wie es heißt. Zwar empfand ich mich nie als "thin", doch ich habe aufgrund meines Gewichts bzw. meines Körpers niemals (strukturelle) Diskriminierung erfahren - auch wenn ich nur selten zufrieden mit ihm war.


Erst während unseres Buchclub-Treffens, als vier Menschen mit unterschiedlichen Körpern sich über das gleiche Buch austauschten und jede sich repräsentiert und von den Worten berührt fühlte, wurde mir klar, dass dieses Buch vielleicht doch von mir handeln kann - und von jeder einzelnen Person, die sich von unserer fettphobischen Gesellschaft beeinflussen lässt oder betroffen ist, egal welche Körperform sie tatsächlich hat, egal ob wir uns selbst Druck machen, um einem internalisierten Schönheitsideal nachzueifern oder ob wir diskriminiert und ausgeschlossen werden. Denn es geht hier nicht um einzelne Erfahrungen, sondern um ein System.



Zum Buch


Auf rund 200 Seiten erzählt Melodie Michelberger eine leicht lesbare, spannende und nahbare Geschichte ihres Körpers und arbeitet die typischen Themen ab, die in Verbindung mit Gewicht immer auf der Tagesordnung stehen - Sport, Gesundheit, Mode, Ernährung - aber eben nicht aus Sicht eines Ratgebers für Gewichtsverlust oder zur Selbstliebe, sondern anekdotisch, erzählend, von dem Druck, der auf Menschen lastet, einem Idealbild zu sprechen. Und zwar nicht nur auf Menschen mit dick_fetten Körpern, sondern genauer betrachtet auf allen.



Als die Autorin auf der Suche nach Inspiration für ihr Buch alte Fotos herauskramte, um sich davon zu überzeugen, dass sie schon früher ein dickes Kind gewesen sei, dem man von Volant-Röcken in bunten Farben abriet, und dass sie auch eine dicke Jugendliche und junge Erwachsene gewesen sei, die aufgrund ihres Gewichts als Diät-Model ausgewählt worden sei, staunte sie nicht schlecht: Die Bilder zeigten, dass all dies scheinbar nur Teil ihres eigenen Selbstbildes und Reflektion einer dem Schlankheitswahn verfallenen Gesellschaft gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Körper keineswegs dick_fett, sondern normschön, schlank. Trotzallem sollte er über Jahre hinweg dem Optimierungsdruck ausgesetzt sein noch dünner, fitter, "schöner" zu werden - mit dem Ergebnis, dass sich Melodie Michelberger erst als Erwachsene, während eines erzwungenen Innehaltens durch ein Burnout, von der negativen Konzentration auf Gewicht und Körperform lösen konnte.


Dass es sich bei einer "Wiedereinswerdung" mit dem Körper nicht um einen einzigen Schlüsselmoment handelt, der das Leben schlagartig verändert und allen Kummer von einer*einem nimmt, wird dabei nicht verschleiert. Gegen Ende des Buches verrät Michelberger:


"Die Frage, die mir mit Abstand am häufigsten gestellt wird, lautet ungefähr so: 'Wie hast du es denn geschafft, so ein starkes Selbstwertgefühl zu bekommen?' Am besten wäre es, ich hätte dann eine Liste mit fünf Tipps zur Hand, zum Abhaken. [...] Die Krux daran: Selbst wenn du es geschafft hast, dich von fettfeindlichen Blicken auf dich selbst und andere zu befreien - du lebst immer noch in einer Welt, die von der Diätkultur geprägt ist". (S. 193)¹


Ganz hilflos werden wir als Leser*innen jedoch nicht zurückgelassen. Die letzten Seiten sind dann nämlich doch mit Ansätzen gespickt, die helfen können sich achtsamer mit dem Thema auseinanderzusetzen und eigene, internalisierte Wertvorstellungen aufzulösen. Dabei handelt es sich nicht um Tipps zu komerziell getriebenen "Care Days" mit Badewanne, Cremes und Nähe zum eigenen Körper, den man dann plötzlich wie von selbst lieben wird. Viel eher geht es um Arbeitsschritte wie das Verändern eigener Sehgewohnheiten und der genutzten Sprache sowie das Etablieren einer Community, die die gleichen Werte vertritt.


Body Image Activism


Auf ihrem Instagram-Profil bezeichnet Melodie Michelberger sich selbst als "Body Image Aktivistin". Und auch in ihrem Buch spielt Aktivismus eine wichtige Rolle. Das vierte Kapitel "Meine Vorfahren und Vorbilder" widmet sie einer ganzen Reihe von Aktivistinnen, die sich gegen Fettphobie und Diskriminierung dick_fetter Körper starkmachen - früher wie heute. Dieser Teil des Buches ist nicht nur einer der empowerndsten, da er zeigt wie viele Menschen bereits ähnliche Erfahrungen machen mussten und bereit sind an der Veränderung unserer Gesellschaft mitzuwirken. Er hält auch tolle Go-Follow-Empfehlungen für Social Media bereit, um die eigenen Sehgewohnheiten, die sich im digitalen Feed widerspiegeln, zu ändern und die Aktivistinnen zu supporten. Besonders positiv empfanden wir die drei Interviews mit Activists of Colour. Diese bringen eine weitere, wichtige da mehrfach diskriminierte Perspektive ein: die der dicken, nicht-weißen Frau. Zudem wird der Zusammenhang zwischen Schlankheitstrend und Kolonialismus thematisiert, bei dem weiße Frauen schon im 15. Jahrhundert versuchten sich durch besondere Disziplin und Fragilität von den Körpern Schwarzer Frauen und Women of Colour abzugrenzen, die als "wild", "grob" und damit "unweiblich" exotisiert wurden.²


So schreibt bspw. die Aktivistin @schwarzrund: "Das Schwarze Dicksein ist in der rassistischen Logik etwas anderes als das weiße Dicksein. Weiße, dicke Menschen gelten als fast perfekt, wäre da nicht ihr großer Körper. Ich dagegen bin darin so weit weg vom Idealbild eines Menschen, ich habe gar keinen Zugang zu einem Normkörper." (S. 154)³


Positiv hervorheben möchten wir an dieser Stelle Michelbergers Selbstreflektion. Obwohl sie (mittlerweile) als Frau mit einem dick_fetten Körper definitiv einer strukturell diskriminierten Gruppe angehört, fehlt es nie an Hinweisen darauf, dass sie trotzallem Privilegien genießt wie ihre Hautfarbe, ihre sexuelle Orientierung, den abled Body und nicht zuletzt auch ihre Körperform, die im Vergleich zu anderen dick_fetten Körpern zu den kleineren gehört und mit einer als "weiblich" verstandenen Linie eher akzeptiert wird als kastigere Figuren. Durch dieses Bewusstsein und das Miteinbinden Schwarzer Aktivistinnen wird ein Anstoß zur intersektionalen Auseinandersetzung gegeben, die unumgänglich ist um alle Menschen in den Body Image Aktivismus einzubinden.


Add-on


Auf unserem Instagram-Kanal haben wir einen der Tipps, die Michelberger am Ende des Buches gibt um achtsamer mit Gewicht und Körper umzugehen, aufgegriffen. Unter dem Motto "don't compliment weight loss" wollen wir darauf hinweisen, dass Kommentare wie "Oh, hast du abgenommen?" keine Komplimente sind. Immerhin können wir uns nie sicher sein ob die Person, die so angesprochen wird, nicht an einer Essstörung leidet, eine emotional belastete Beziehung zu ihrem Körper hat oder sogar aus Krankheitsgründen oder Kummer abgenommen hat. Dies positiv zu erwähnen, kann Betroffene hart treffen und dazu führen, dass der Druck, noch mehr Gewicht zu verlieren, steigt. Stattdessen haben wir gemeinsam mit der Community Komplimente gesammelt, die man wirklich gerne hört / verteilt und die das Gegenüber nicht nur auf den Körper reduzieren. Diese empowernde Sammlung findest du in diesem Instagram-Posting. Viel Spaß beim Stöbern!


Wenn du auch schonmal ein tolles Kompliment verteilt oder erhalten hast, das nichts mit dem Körper zu tun hat, kannst du es gerne in der Kommentarspalte mit uns teilen.



Quellen:


¹&³ Michelberger, Melodie: Body Politics.

² vgl. Lugones, Maria: The Coloniality of Gender. S. 13.


Anmerkungen:


"Body Politics" wurde unseren Buchclub-Mitgliedern als Rezensionsexemplar vom Rowohlt Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Unsere Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst.


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