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  • AutorenbildNatalie

Blutbuch von Kim de l'Horizon

Kim de l’Horizon hat einen Debütroman veröffentlicht und landet damit direkt auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022. Allein diese Tatsache zeigt, dass Blutbuch Eindruck hinterlässt und Leser*innen begeistern kann.


Zum Inhalt: Der Roman beginnt damit, dass die Großmutter, im Buch stets Großmeer genannt, der erzählenden Person an Demenz erkrankt. Je mehr die Erinnerungen der Großmeer verschwinden, desto mehr rücken sie in den Vordergrund der Familienmitglieder. Die Hauptfigur des Buches macht sich auf die Suche nach dem Zusammenhang der fragmenthaften Erinnerungsbilder aus der Kindheit und versucht vor allem die mütterliche, stets präsentere, Blutlinie zu entfesseln, um somit die eigene Entwicklung nachvollziehen zu können. Als Leser*in schaut man gemeinsam mit der Hauptfigur zurück in die Vergangenheit und lernt kleine Teile des Kindes kennen, welches nicht verstehen kann, warum es sich entscheiden soll zwischen Mann und Frau.

Kindheitserinnerungen, die nur aus der dritten Person beschrieben werden können, denn dieses Kind scheint ein fremdes Wesen zu sein, welches genauso schwer greifbar ist, wie das Kind selbst die Welt nur schwer greifen kann.


„Wenn es ein Gefühl aus meiner Kindheit gibt, das ich noch genau kenne, dann ist es das Gefühl, dass mein Körper nicht mir gehört. Dass er für andere, für anderes da ist und nicht für mich, um darin zu sein. Ich war immer so ein Möbel, ein Kommödli, für Ausrangiertes. Ich weiss nicht, wie, aber die Erwachsenen haben ihre Dinge, Themen, Probleme in mir deponiert: das Fühlen, das unerwünscht war, die Ängste, das Mannsein, das Frausein, die Wunden. Kann sein, dass diese Dinge auch einfach herr*innenlos rumlagen, dass ich sie eingesammelt habe, dass ich sie selbst in mich hineingestellt habe.“ (S. 49)

Kim de l’Horizon versucht dieses scheinbar verlorene Kind auf viele Arten zu beschreiben und nutzt am häufigsten den Weg, die Welt durch dessen Augen zu sehen. Es beschreibt den unendlich großen Wunsch, so groß und verwurzelt wie die Blutbuche im Garten zu sein. Es beschreibt, wie es mit Tieren und Pflanzen spricht und welche Ratschläge sie ihm geben. Es redet von Zaubersprüchen und Magie, welche es in der Welt braucht, um gegen schlechte Dinge anzukommen. Man erfährt vom Vater, der liebevoll und sensibel zu sein scheint und doch irgendwie kaum stattfindet. Den meisten Raum scheint die Großmutter einzunehmen, die laut und endlos redet und stets Präsenz zeigt. Deren Körper, vor allem die Hände, ein Eigenleben besitzen und die so oft von ihrer Vergangenheit spricht, ohne wirklich etwas zu sagen.


Weiterhin wird auch die Mutter, die Meer, beschrieben. „Meer hat drei Häute. Die erste Haut ist aus Frau. Sie wäre gern ein Mann geworden. Sie wollte aggressiv sein dürfen. Studieren. Keine Kinder haben dürfen. Gleichzeitig hasst sie die Männer. Sie baut den Garten zu einer Festung. (…) Ein Schutzwall gegen aussen. Meers zweite Haut ist aus Reden. Das Reden ist eine Rüstung. Eine geerbte Haut. Meers dritte Haut ist aus zähem Vergessen.“ (S. 77) Manchmal wird die Mutter zur Eishexe, da das Kind sieht, dass sie ein Friedhof ist. „Sie trägt alle Frauen der Welt in sich. (…) Sie sind meistens eine Million Kilogramm schwer. Jede Einzelne.“ Gegen die Kälte und das Leid der Mutter verwendet das Kind Zaubersprüche.


Im weiteren Verlauf des Werkes geht es um die Erfahrungen und Emotionen, welche von der Großmutter und der Mutter verdrängt oder ignoriert werden, es geht um das erwachsene Leben dieses Kindes heute und wohin es gehen wird. Wie das Buch endet, kann ich bisher nicht verraten, denn zu Ende gelesen habe ich es noch nicht.

Kim de l’Horizont hat in dieses Werk nach eigenen Angaben 10 Jahre Arbeit einfließen lassen und ich persönlich hatte stellenweise immer wieder das Gefühl, dass es auch so lange brauchen wird, bis mensch dieses Buch tatsächlich durchdringt und versteht.

Anfangs habe ich versucht, so schnell wie möglich zu lesen, um immer mehr Zusammenhänge zu verstehen und nachzuvollziehen – doch mit der Zeit wurde mir klar, dass man dieses Buch langsam und vielleicht auch mehrmals lesen sollte, um es tatsächlich zu durchdringen. Was dieses Werk nämlich besonders macht, ist die Sprache der sich hier bedient wird – oder besser gesagt: der sich hier nicht bedient wird.


Kim de l’Horizont sprengt nicht nur eine männlich dominierte Sprache und lineare Erzählweisen, sondern auch immer wieder sprachliche und literarische Grenzen. Der Inhalt wird, wie bereits erwähnt, nicht chronologisch wiedergegeben, die Erzählweise springt zwischen Erzählungen, Aufreihungen, Versen und Sprachen hin und her, ist mal eher ein Märchen mal eine nüchterne Aufzählung. Das hat es mir persönlich immer wieder schwer gemacht, im Lesefluss zu bleiben. Als Leser*in muss man sich sehr stark konzentrieren und stellenweise kämpfen, um der Geschichte treu zu bleiben – belohnt wird man jedoch mit Passagen, die so klar und perfekt formuliert sind, dass man sich fragt, wieso man diese Dinge nicht immer so klar ausdrücken kann.


Man bekommt einen Einblick, wie verwirrend und belastend es sein muss in einer Welt aufzuwachsen, in der es nicht mal sprachlich einen Platz gibt für Menschen, die sich nicht stur in das binäre System einreihen wollen – oder können.


„Das Kind fragt sich. Wann muss man sich entscheiden. Ob man Mann oder Frau wird? Es positioniert sich oft vor dem Spiegel. Aber nie zu lange. Es hat Angst. Dass auch der Spiegel seinen Körper behält. Das Kind weiss: Es darf kein Mann werden. Meers Liebe ist riesig. Meers Liebe ist grösser als das Land. Ein ganzes Leben reicht nicht, um aus Meers Liebe herauszukommen. Meers Liebe ist ein Ozean. Und sie hat eine einzige Küste: die Männlichkeit. (…) Es darf aber auch keine Frau werden. Was würde der Peer. Aber Frauen haben so schöne Haare. (…) Und sie dürfen Hosen UND Röcke tragen. Und sie dürfen weinen, so viel sie wollen. (…) Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU. WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI? Es schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden.“ (S. 86)

Wie man vielleicht bereits gemerkt hat, fällt es mir schwer die richtigen Worte zu diesem Buch zu finden – denn schon alleine die Bezeichnung Roman reicht nicht wirklich aus. Wenn ich nur ein Wort zur Beschreibung zur Verfügung hätte, dann würde ich sagen, dass dieses Buch eines ist: anders.


Hätte ich mehrere Worte zur Verfügung, würde ich vermutlich kein Ende finden: Es ist laut und leise, stellenweise poetisch, manchmal hart, es ist vielseitig und viel. Das Lesen ist kapitelweise sehr anstrengend und dann reicht ein Satz aus, um die ganze Welt zu beschreiben. Und es tritt aus der Reihe und alleine das ist schon ein Argument, diesem Buch eine Chance zu geben.

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